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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Protagonisten in diesem zynischen Schauspiel gerichtet, den Delinquenten und seinen Scharfrichter. Deshalb bemerkte niemand, wie sich Tailor mühsam hochstemmte. Trotz ihres verletzten Beines schleppte sie sich zur noch offen stehenden Gepäckluke der Otter. Selbst die abgebrühten Elitekämpfer hatten sich zu lange ablenken lassen, ihrer Blutgier zu sehr nachgegeben. Des einen Unachtsamkeit ist des anderen Rettung. Eine Gewehrsalve fauchte über den Einstieg, aber die Kugeln trafen nur noch Aluminium.
    Der Anführer des Mordkommandos fluchte, die erste menschliche Regung, die er seit Beginn des Einsatzes erkennen ließ. Mit einem Mal schien er es sehr eilig zu haben. Die Distanz zwischen sich und dem Congressman überbrückte er mit drei, vier schnellen Schritten; es war der Abstand, der zwischen Leben und Sterben lag. Der Killer hob seine Waffe, ein Donnern ertönte, und Leo Ryans Lebensfaden war durchtrennt.
    Frielander starrte fassungslos auf das Rollfeld – es war zu einem Schlachtfeld geworden.
    Eine gespenstische Stille lag über der Szenerie. Vier, fünf Atemzüge lang betrachteten die grün gekleideten Schergen ihr Tagewerk. Ihr Anführer nahm langsam seinen runden Stoffhut ab und wischte sich mit dem Uniformärmel über Stirn und Glatze…
    Ken Frielander riss die Augen auf. Der schwarze Killer war kahl! Genauso wie… Im Gedächtnis des Reporters wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen. Dahinter stand ein Afroamerikaner, der sich wie ein dunkler Schatten hinter Reverend Jones gehalten, ihm hier und da etwas zugeflüstert hatte. Am Vormittag war sich Frielander lange darüber im Unklaren gewesen, warum er den Glatzkopf unablässig anstarren musste. Jetzt glaubte er es zu wissen.
    Der Mann besaß keine Augenbrauen, keine Wimpern, ja, offenbar kein einziges Haar…

 
    DIE WEISSE NACHT
     
     
     
    Jonestown (Guyana)
    18. November 1978
    16.50 Uhr
     
    »Alarm, Alarm, Alarm, Alarm!« Die Stimme drang blechern aus den überall in der Siedlung aufgestellten Lautsprechern. Nur wenige hatten sich bisher an die alerts gewöhnt, mit denen der Reverend seine Anhänger höchstpersönlich aufzuschrecken pflegte, nicht selten, wenn schon alle schliefen. Der Anlass für einen Alarm – Jones bevorzugte den Ausdruck »Weiße Nacht« – war stets eine Krisensituation oder das, was er dafür hielt.
    »Das habe ich befürchtet«, sagte Rachel. Ihre Hand suchte und fand die ihres Mannes.
    Lars nahm sie in die Arme. »Der Reverend hat ja schon um drei Uhr seine Leute zusammengerufen. Diese Weiße Nacht war abzusehen.«
    »Und wir waren nicht dabei. Ob er Verdacht geschöpft hat?«
    »Möglich wär’s. Wir müssen vorsichtig sein.«
    Jerry betrachtete ihre Eltern mit weit in den Nacken gelegtem Kopf. Sie konnte die Angst wahrnehmen, die das Bellman Cottage erfüllte wie ein disharmonischer Klang aus einer Ziehharmonika. Schutz suchend schmiegte sie sich an die Körper der Erwachsenen.
    Ihre Mutter ging in die Knie, umfasste Jerrys Hände und suchte Blickkontakt. Sie rang sich ein Lächeln ab und sagte: »Wir machen jetzt ein Versteckspiel. Du kennst ja schon die losen Bretter im Schlafzimmer, nicht wahr?« Sie sah zum Vater auf. Die beiden wechselten einen kurzen Blick, von ihr ein sparsames Nicken, von ihm ein leises Seufzen. Eine stillschweigende Vereinbarung.
    »Da, wo du immer deine Briefe versteckst?«, fragte Jerry. Sie spürte die warme Hand ihres Vaters auf dem Kopf.
    »Komm!«, sagte er mit traurigem Lächeln.
    Das Mädchen ließ sich in den zweiten der beiden Räume des Cottage führen, in dem die Betten standen: in der Mitte ein großes mit einem Messinggestell und rechts an der Wand dieses Babyding mit Gittern, dem sich Jerry längst entwachsen fühlte. Ihr Vater kniete sich am Fußende des Doppelbettes auf den Boden. Sie beobachtete ihn dabei, wie er die Klinge seines Taschenmessers in eine Ritze zwischen den Dielen steckte, ein wenig rüttelte und dann das gesamte Brett herauslöste. Im Handumdrehen hatte er noch zwei weitere Dielen auf die Seite gelegt. Unter dem Fußboden befand sich ein Hohlraum, der gerade groß genug war, um ein fünfjähriges Kind darin zu verstecken. Jerrys Vater legte eilig eine Decke und mehrere Kleidungsstücke in die Grube.
    »Siehst du. Schon ist unsere Höhle fertig. Du bekommst noch etwas zu essen und zu trinken, dann kannst du da drinnen warten, bis alles vorüber ist.«
    »Ich will aber nicht«, jammerte Jerry und klammerte sich an der Hand ihrer Mutter fest.
    »Es ist nur eine

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