Der silberne Sinn
sobald wie möglich nach.«
Jerry wagte nicht zu atmen. Sie glaubte, Eugenes Marderaugen würden direkt zu ihr hinabblicken. Unvermittelt holte er tief Luft und sagte: »Gegenvorschlag: Rachel geht schon mal vor zum Pavillon, und wir beide, Lars, suchen eure Tochter.«
Eugene machte einen Schritt vorwärts und legte seine Hand auf die Schulter von Jerrys Vater, um ihn zum Gehen zu bewegen. Dabei fiel dem Mädchen die seltsame Kleidung des Besuchers auf. Anders als vor ein paar Stunden trug Eugene jetzt einen Overall, dessen Farben und Muster sie an den Dschungel erinnerten.
Die drei Erwachsenen verließen das Schlafzimmer. Jerry schloss die Augen und fing leise an zu weinen. Mit einem Mal hörte sie schnelle Schritte herankommen und erschrak, als sich ein Schatten über den Spalt schob.
»Ich bin’s, mein Schatz«, sagte ihre Mutter. »Du musst jetzt ganz tapfer sein. Und denk daran, was ich dir gesagt habe, Jerry: Keinen Mucks!«
Rachel hatte kein gutes Gefühl, als sie Lars zusammen mit Eugene Smith zwischen den Hütten verschwinden sah. Ohne allzu große Eile machte sie sich zum Pavillon auf. Andere Gläubige spurten besser – überall sah man rasch laufende Gestalten.
Als sie den Pavillon erreichte, waren die Stuhlreihen schon gut besetzt. Den engsten Mitarbeitern des Reverend stand ein Platz ganz vorne auf der Bühne zu. Jim Jones saß bereits auf seinem rauen Thron. Obwohl bald die für diese Breitengrade typisch kurze Dämmerung hereinbrechen würde, trug er noch immer seine getönte Brille. Der Reverend umklammerte die Armlehnen des Stuhles, als fürchte er herunterzufallen.
Wie bei den Weißen Nächten üblich, standen vor dem Thron ein Mikrofon und darunter ein Tonbandgerät. Jeder Sermon des Reverend wurde mitgeschnitten. Es gab ein ganzes Archiv solcher Aufnahmen, ein Vermächtnis an die Nachwelt, wie Rachel vermutete.
»Christine!«, begrüßte Jones seine »hingebungsvollste Krankenschwester«. Früher hatte Rachel die Eigenart des Reverend, sie bei ihrem zweiten Vornamen zu nennen, nicht weiter gestört. Jetzt wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt und ins Bellman Cottage zurückgelaufen. Ihr kleiner Schatz lag dort unter dicken Brettern und weinte sich vermutlich die Augen aus.
Rachel ließ sich vom Reverend umarmen. Seinen Jüngerinnen, zumal wenn sie jung und hübsch waren, pflegte er stets besondere Fürsorge angedeihen zu lassen. An diesem Tag wirkte der Hirte jedoch fahrig und unaufmerksam.
»Wir haben dich schon erwartet«, sagte Mutter Jones und deutete auf einen Platz in der Nähe des Thrones. Marcy kannte die Vorlieben ihres Mannes und hatte sich irgendwie damit arrangiert.
Rachel setzte sich auf den ihr zugewiesenen Stuhl und blickte sehnsüchtig nach draußen. Wo Lars nur blieb!
Allmählich kehrte Ruhe unter dem Zinndach des Pavillons ein. Marceline Jones legte dem kleinen John Victor Stoen den Arm um die Schulter und setzte sich mit ihm zur Rechten ihres Mannes. Links nahm Jim McElvane Platz. Er war vorgestern aus Kalifornien herübergekommen, wo er für die Sicherheit im Volkstempel sorgte. Andere Mitglieder des inneren Zirkels besetzten, bis auf zwei Ausnahmen, die noch freien Stühle.
Jim Jones wollte nicht länger auf die Ankunft seines Alter Ego, Eugene Smith, sowie die seines Agrarkoordinators Lars Bellman warten. Die Weiße Nacht sollte endlich beginnen. Er erhob sich schwerfällig. Jeder in der Versammlungshalle konnte sehen, wie müde und abgespannt er wirkte. Auch die letzten Flüsterer verstummten.
»Ich habe euch geliebt«, begann Jones in der ihm eigenen getragenen Sprechweise. »Wie sehr habe ich mein Bestes versucht, euch ein gutes Leben zu geben! Ungeachtet all dessen, worum ich mich bemühte, hat eine Hand voll unserer Leute mit ihren Lügen unser Leben unmöglich gemacht. Es gibt keinen Weg, uns von dem zu distanzieren, was heute geschehen ist. Nicht nur…« Jones ließ sich langsam in seinen Thron sinken und schüttelte dabei bedauernd den Kopf. »Wir befinden uns in einer verzwickten Lage. Da sind nicht nur jene, die uns verließen und den Betrug des Jahrhunderts befürworteten. Einige von ihnen haben Kinder gestohlen, gerade jetzt trachten sie danach, einander zu töten. Und wir sitzen auf einem Pulverfass und warten.«
Rachel blickte verstohlen zu dem sechsjährigen Jungen in Marcys Arm. Jerrys Spielkamerad war vielleicht der eigentliche Auslöser für den Krieg, den der Reverend mittlerweile mit der kalifornischen Justiz, den Medien, ja, wie
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