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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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es aussah, mit der ganzen Welt führte. Warum hätte er seinen Anhängern sagen sollen, was nun durch die Lautsprecher bis in den letzten Winkel des Pavillons hallte?
    »Ich denke nicht, dass wir uns für unsere Kleinen so etwas wünschen. Ich denke nicht – das hatten wir mit unseren Kindern nicht im Sinn. Es wurde vor undenklicher Zeit vom größten aller Propheten gesagt: ›Kein Mensch kann mir mein Leben wegnehmen, ich lege mein Leben nieder.‹«
    »Ja!«, rief die Menge wie aus einem Munde.
    Rachel fuhr erschrocken zusammen. Ungläubig bemerkte sie das Leuchten in den Augen der Menschen, die da zum Podium hinaufblickten, während der Reverend über eine nahende Katastrophe lamentierte, die offenbar Leo Ryans Flugzeug ereilen sollte und die hier, in Jonestown, ihren Anfang nahm.
    »Der Congressman wurde fast getötet«, klagte er. »Aber du kannst Leuten nicht die Kinder stehlen. Du kannst nicht mit jemandes Kindern fortfliegen, ohne irgendeine gewaltsame Reaktion zu erwarten…«
    Rachel verspürte den Drang, diesem Theater ein Ende zu bereiten. Wie konnte der Reverend so mit den Gefühlen der Menschen spielen? Welches Recht hatte er, sie zur Selbstjustiz anzustacheln?
    »… Wenn wir nicht in Frieden leben können, dann müssen wir in Frieden sterben.«
    Die Menge applaudierte.
    Irgendetwas ist heute anders, dachte Rachel. Sie hatte unsäglich viele dieser morbiden Weißen Nächte erlebt. Die Worte mochten sich ähneln, aber die suggestive Kraft, mit der Jones seine Todessehnsüchte verbreitete, hatte sie nie zuvor so intensiv, nie so zwingend empfunden. Er klagte darüber, jämmerlich betrogen worden zu sein, beschwor gleich darauf den höheren Sinn ihrer aller Arbeit, und die Leute jubelten. Rachel zitterte. Jemand musste diesen Wahnsinnigen aufhalten…
    Jim Jones warf seine beschwörende Stimme wie ein Netz über die Menschen aus, wie Fische schienen sie darin gefangen zu sein.
    »Was sich hier in ein paar Minuten ereignen wird«, verkündete er, »geschieht, weil einer im Flugzeug im Begriffe steht, den Piloten zu erschießen. Ich weiß das. Ich habe es nicht geplant, aber ich weiß, es wird geschehen. Sie werden den Piloten niederschießen, und das Flugzeug wird in den Dschungel stürzen; und es wäre besser, wir hätten unsere Kinder fortgeschickt, weil man hier mit Fallschirmen einfallen wird.«
    Was redete Jones da? Fallschirmjäger? Wer sollte die Siedlung überfallen? Ja, sicher, dieser Joe Mazor, ein zwielichtiger Mann, der sich als Privatdetektiv ausgab, hatte vor einigen Wochen eine Söldnertruppe hergeschickt, um in Jonestown Angst und Schrecken zu verbreiten. Mazor erhoffte sich Massenaustritte, was das Agrarprojekt des Volkstempels zweifellos ausgetrocknet hätte. Aber das war Schnee von gestern. Inzwischen hatte Jones diesen Mazor gekauft. Warum also wollte er jetzt seine Anhänger mit sich in ein Boot zwingen, dessen Name Tod war? Seiner in diesem Moment geäußerten Ansicht nach sollten sie freundlich zu Kindern und Betagten sein und »leise hinüber gehen, weil wir Selbstmord nicht zustimmen können«.
    Rachel spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. War es so einfach, tausend Menschen zum Freitod zu verführen? Genügte es, vom leisen Hinübergehen zu säuseln, um das bittere Gift des Todes zu versüßen?
    »Es ist ein revolutionärer Akt«, sagte Jones. »Wir können nicht umkehren. Sie wollen uns nicht in Ruhe lassen. Gerade jetzt kehren sie zurück, um mehr Lügen zu verbreiten. Weitere Kongressabgeordnete werden folgen. Und da gibt es keinen Weg, keinen Weg für uns, um zu überleben. Jeder… Jeder, der anders darüber denkt, soll bitte sprechen…«
    Während Jones noch fortfuhr, vom Hinschlachten ihrer Kinder zu reden, und Timothy Stoen – John Victors Vater – die Schuld für ihre missliche Lage zuschob, atmete Rachel tief. Der Reverend hatte jeden dazu aufgefordert, seine Gedanken zu äußern. Offener Kritik begegnete er stets mit erstaunlichem Desinteresse, nicht selten auch mit Gereiztheit, aber womöglich konnte sie erreichen, dass die letale Stimmung, die er herbeigeredet hatte, umschwenkte. Rachel hielt sich nicht für eine große Rednerin, jedenfalls nicht, wenn ihr derart viele Menschen zuhörten, aber jetzt zwang sie ihre Zurückhaltung nieder und hob zaghaft die Hand.
    Jones drohte gerade mit den Folgen, welche die Leute in San Francisco angesichts des Todes so vieler Menschen würden verantworten müssen, als ihn die Bewegung zu seiner Linken ins Stocken

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