Der silberne Sinn
Vorsichtsmaßnahme, Schatz«, sagte der Vater und zog seiner Tochter die Kapuze des – nun wieder gelben – Regenparkas über den Kopf.
Jerry sah zur Mutter auf. Ihre Eltern mochten noch so zuversichtlich dreinblicken, das Gefühl des Bedrohtseins konnten sie vor ihr nicht verbergen. Ihr kam es so vor, als habe sich nach der Abreise der Besucher eine Wolke auf Jonestown gesenkt, die unmerklich alles Leben erstickte. Niemand, außer vielleicht ihre Eltern, schien diesen »Nebel des Todes« zu bemerken. Jerry dagegen war in den letzten drei Stunden immer unausstehlicher geworden.
»Ich möchte lieber mit euch gehen«, wimmerte sie.
Wieder hockte sich ihre Mutter vor Jerry nieder, kniete sich dann sogar auf den Boden. Zärtlich strich sie ihr über den blonden Lockenschopf, blickte ihr eindringlich in die braunen Augen und sagte dann: »Schau, Jerry, Papa und ich wissen nicht, was uns in den nächsten ein, zwei Stunden erwartet. Du bist das Kostbarste, was wir besitzen, und deshalb möchten wir nicht, dass dir irgendetwas passiert. Verstehst du das?«
Jerry schob die Unterlippe vor und nickte.
»Deshalb musst du mir jetzt etwas ganz, ganz fest versprechen, hörst du?«
Jerrys Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nickte ein weiteres Mal.
Rachel hätte ihre Tochter in diesem Moment gerne an sich gedrückt. Stattdessen hielt sie den Blick des Mädchens mit ihren funkelnden dunklen Augen fest und sagte eindringlich: »Du musst ganz still sein, Jerry. Sag keinen Mucks, egal was geschieht. Vielleicht hörst du Geräusche, die dir Angst machen, aber du darfst dich trotzdem nicht mucksen. Hast du das verstanden?«
Jerry schlang die Arme fest um den Hals ihrer Mutter und schluchzte: »Kommt ihr wieder, Mama?« Sie spürte, wie eine sanfte Hand zärtlich über ihren Rücken strich, und ihr Herz schlug augenblicklich ruhiger. Als sie nach oben blickte, sah sie ihren Vater weinen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Auch die Stimme ihrer Mutter klang alles andere als fest.
»Solange ich lebe, werde ich immer zu dir zurückkehren, mein kleiner Schatz. Und Papa genauso. Sollten wir uns verspäten, dann wartest du, bis es dunkel geworden und alles ruhig ist. Dann, und erst dann, drückst du die Dielen nach oben und läufst in den Dschungel. Da wartest du, bis Hilfe eintrifft. So, und jetzt probieren wir deine Höhle aus.«
Nur widerwillig löste sich Jerry von ihrer Mutter, bedeckte ihr Gesicht mit Küssen, ließ sich noch einmal von ihrem Vater umarmen, stieg dann in die Grube und legte sich rücklings in das Nest aus Decken und Kleidern. Drei Bretter schoben sich nur eine Handbreit über ihr Gesicht. Sie empfand trotzdem keine Platzangst, weil sie sich gerne in enge Schlupfwinkel verkroch. Direkt über ihrem Auge ließ ein Spalt etwas Tageslicht hindurch. So konnte sie, aus ungewohnter Perspektive, ihren Vater sehen.
»Alles in Ordnung, Jerry?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie.
»Ich möchte wissen, ob du dich notfalls selbst aus dem Versteck befreien kannst. Versuch, irgendeines der Bretter anzuheben.«
Sie stemmte beide Hände von unten gegen die mittlere der drei lockeren Dielen. Mit einem kleinen Ruck löste sich das Brett. Und in diesem Augenblick meldete sich von draußen ein unerwarteter Besucher.
»Lars? Rachel? Seid ihr noch da drin?«
Jerry kannte diese helle, einschmeichelnde Männerstimme. Vorbei am gelüpften Bodenbrett beobachtete sie ihren Vater. Schnell bückte er sich, drückte die Diele sanft über ihr Gesicht und antwortete dann: »Eugene, bist du das?«
»Du weißt, dass ich es bin, Lars. Habt ihr nicht den Alarm gehört?«
»Und du?«, fragte Jerrys Mutter zurück. Ihre Stimme klang angriffslustig.
Mit einem Mal vernahm das Mädchen Schritte. So dicht unter dem Dielenboden klangen sie überraschend laut. Sie durchquerten die Wohnküche und kamen direkt auf das Versteck zu. Als im Bodenspalt der haarlose Kopf von Eugene Smith auftauchte, durchlief Jerry ein Schauer. Was hatte ausgerechnet der hier herumzuschnüffeln?
»Wo ist eure Tochter?«, fragte Eugene.
»Ist sie etwa nicht vor dem Haus?«, hörte Jerry ihre Mutter verwundert fragen.
»Der blonde Lockenkopf wäre mir bestimmt aufgefallen.«
»Dann müssen wir nach ihr suchen«, drang die Stimme eines besorgten Vaters ins Versteck hinab.
»Ihr treibt hier doch nicht etwa irgendein Spiel?«, fragte Eugene mit drohendem Unterton.
»Man merkt, dass du keine Kinder hast. Geh nur schon zur Versammlungshalle vor. Rachel und ich kommen
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