Der silberne Sinn
Erinnerungslücken zu füllen. Hierbei ging sie mit derselben Korrektheit vor, die sich auch in ihrem Äußeren widerspiegelte. Sie berichtete von einem konspirativen Gespräch, das sie am frühen Morgen des 18. November mit Congressman Ryan in Jonestown geführt hatte. Ryan habe in dem angeblichen Agrarprojekt eine MK-Ultra-Versuchseinrichtung des CIA vermutet. Sie, Mrs Quingley, sei nicht überrascht gewesen. Sie habe damals in der so genannten Erweiterten Pflegestation gearbeitet und außerdem zum Führungskreis des Reverend gehört. Selbst der wusste, bis auf wenige Ausnahmen, jedoch nichts von dem, was in Jonestown wirklich vor sich ging. Einmal habe sie jedoch zufällig ein Gespräch zwischen dem Reverend und Eugene Smith belauscht, einem haarlosen Muskelpaket, das ständig in Jones’ Nähe herumscharwenzelte. Dabei fiel das Wort »Gefühlskontrolle«. Die beiden sprachen darüber, eine größere Anzahl von Menschen für ein Selbstmordkommando zu präparieren, einen Krieg, einen Anschlag oder etwas Ähnliches. Genaueres habe sie damals nicht erfahren können, weil das Gehörte ihr Angst einjagte und sie von diesem Tag an alles daransetzte, Jonestown zu verlassen.
Yeremis Herz raste vor Erregung. Was sie da hörte, bestätigte ihre schlimmsten Vermutungen. Sie fragte Mrs Quingley, ob ihr je ein Mann namens S. Arthur Moltridge begegnet sei, er könne sich auch Sam Iceberg genannt haben. Mildred schüttelte den Kopf. Yeremi kramte aus ihrem kleinen Rucksack das Foto hervor, das ihren Vater, Carl und Moltridge zeigte. Sie legte es vor Mrs Quingley auf den Tisch. Deren Augen begannen plötzlich zu leuchten. Sie nahm das Bild in die Hand, um es besser betrachten zu können. »Ja, an den Mann kann ich mich noch gut erinnern«, sagte sie aufgeregt. »Er hatte so klare Augen wie grünes Eiswasser.« Sein Name lautete anders – ihr Gedächtnis sei in letzter Zeit wie ein Sieb. Irgendetwas Schottisches…
»Moltridge muss Iceberg sein«, murmelte Yeremi in Sarafs Richtung und wandte sich wieder Mrs Quingley zu. »Wie hat Ryan auf das reagiert, was Sie ihm sagten?«
»Er war entsetzt. Der Volkstempel ein Laboratorium voller menschlicher Versuchskaninchen – der Congressman wollte unverzüglich in die Heimat zurückreisen und seinen Befürchtungen eine Stimme verleihen. Er versprach die Einsetzung einer offiziellen Untersuchungskommission der Regierung. Damit hatte er sein Todesurteil unterschrieben.«
»Wie meinen Sie das?«, hakte Yeremi nach.
»Ich glaube, man hat uns belauscht. Ganz Jonestown war verkabelt. Es würde mich nicht wundern, wenn der Haarlose Eugene… Jedenfalls hat er Ryan kaltblütig erschossen. Und nicht nur ihn. In Jonestown gab es viele, die dem Aufruf des Vaters zum revolutionären Selbstmord nicht folgen wollten. Aus meinem Versteck musste ich mit ansehen, wie man viele von ihnen abschlachtete. Eugene Smith selbst war zu dieser Zeit verletzt. Er und eine Geisel wurden mit Hubschraubern weggebracht.«
Wieder wurde ein Stück jenes Vorhanges zur Seite gezogen, der Yeremis Erinnerungen verdeckte. In jener furchtbaren Nacht hatte sie zwei Männer auf Bahren erblickt, sie aber nicht erkannt. Einer war dunkelhäutig, es musste der Haarlose Eugene gewesen sein. Aber der andere…?
»Können Sie sich erinnern, wer diese Geisel war?«
Mrs Quingley verneinte. Sie habe den Mann nur von hinten gesehen. Nach dem Abflug der Hubschrauber sei sie in den Dschungel geflohen und habe sich dort versteckt. Zweimal zogen kleinere Einheiten von Uniformierten vorüber, die offenbar Überlebende jagten. Später sei sie dann von Rettungsmannschaften gefunden und in Port Kaituma von amerikanischen Soldaten einer Eliteeinheit zum Schweigen verpflichtet worden. Danach habe man sie in die USA ausgeflogen.
Yeremi nickte. »Ich war auch dabei.«
Mrs Quingleys blaue Augen fixierten mit einem Mal die Narbe an Yeremis Hals und weiteten sich. »Jetzt erkenne ich dich wieder! Du bist das kleine blonde Mädchen mit den großen dunklen Augen und dem bandagierten Hals.«
Die Sonne schien von einem azurblauen Himmel, als Yeremi den Cherokee aus Gilroy lenkte – ideale Flugbedingungen.
Die sterbenskranke Frau hatte versprochen, ihre Erinnerungen vor Gericht zu wiederholen, sollte es je zu einer Anklage Flatstones kommen, und sie unverzüglich einem Notar zu diktieren. Immerhin musste sie darauf gefasst sein, die Eröffnung des Verfahrens nicht mehr zu erleben. Obwohl die Begegnung mit Mildred Quingley nicht länger
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