Der silberne Sinn
als eine Stunde dauerte, hatte Yeremi sich von ihr wie von einer langjährigen Freundin verabschiedet. Sich vorzustellen, diese warmherzige Frau würde bald für immer die Augen schließen, fiel Yeremi schwer. Ich werde zurückkommen und dich zur Strecke bringen, Flatstone, dachte Yeremi, ein Gedanke, der sie mit Befriedigung erfüllte, selbst wenn er mit Schmerz verbunden war: dem der Trennung von Saraf.
Schweren Herzens blickte sie nach rechts. Sarafs Augen sahen sie traurig an. Hatte er ihre Gedanken erraten? Yeremi bezwang die Rachegelüste und schenkte ihm ein Lächeln.
»Das da vorne muss der Flugplatz sein.« Sie deutete durch die Windschutzscheibe nach Nordwesten.
Das von zwei Gebirgszügen umgebene Santa Clara Valley war nicht gerade reich bestückt mit Flughäfen. Die wenigen Pisten waren so kurz, dass nur kleinere Verkehrsmaschinen dort starten oder landen konnten. Auch der Airport von Gilroy bot einen eher jämmerlichen Anblick. Es gab eine einzige Asphaltbahn, einen Tower, der in seinem früheren Leben ein Leuchtturm gewesen sein musste, drei Wellblechhangars und eine kleine Empfangshalle aus flachen Quaderelementen, die an einen Containerpark erinnerte.
Yeremi stoppte den Jeep vor einem geschlossenen Fenster, hinter dem jemand mit schulterlangen Haaren an einem Schreibtisch saß und telefonierte. Unerschrocken klopfte sie gegen die Scheibe. Der Kopf drehte sich, und ein Mann funkelte sie unwirsch an.
»Bert Hodgson«, rief Yeremi – der Name des Piloten, den Carl am Morgen telefonisch gebucht hatte.
Der Mann am Telefon deutete auf seine Uhr und streckte ihr dreimal die freie Hand entgegen, an der der kleine Finger fehlte. »Hodgson ist noch nicht da. Er kommt in zwölf bis fünfzehn Minuten«, erklärte Yeremi Saraf, als der neunfingrige Mann mit seinem Arm einen weiten Bogen beschrieb.
»Wenn wir das Gebäude umrunden, finden wir vermutlich einen Warteraum. Lass uns da reingehen.« Yeremi lief bereits in die gewiesene Richtung.
Sie entdeckten eine weiß korrodierte Aluminiumtür, die klemmte, sich jedoch rasch, wenn auch kreischend, Sarafs Muskelkraft ergab. Die beiden Fluggäste betraten einen schlecht beleuchteten Raum. Hinter ihnen flog die Metalltür krachend ins Schloss.
Die »Empfangshalle« war ungefähr so anheimelnd wie das Wartezimmer eines Feldlazaretts: Linoleum auf dem Boden, PVC an Wänden und Decke, eine nervös blinkende Leuchtstoffröhre in Türnähe und graue Schalensessel aus Kunststoff zum Verweilen. Durch ein kleines Fenster am anderen Ende konnte man die Piste sehen. Links zweigte ein Gang ab, der mit einem Toilettenschild auf sich aufmerksam machte.
»Nicht gerade gemütlich«, sagte Yeremi.
Saraf, der schräg hinter ihr stand, antwortete nicht.
Sie drehte sich zu ihm um. Sein Gesicht wirkte angespannt, so als lausche er auf ein fernes Geräusch. »Was ist?«, fragte sie.
»Das kann ich nicht erklären«, antwortete er leise. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
»Ich verstehe kein Wort. Sprichst du von dem Mann im Büro? Hörst du ein Gefühl, das…?«
»Eher das Gegenteil davon«, unterbrach er sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich spüre eine Leere, die nicht natürlich ist.«
Ohne sich mit weiteren Erklärungen aufzuhalten, umrundete er Yeremi auf leisen Sohlen und schlich direkt auf den Gang unter dem Toilettenschild zu. Ehe er diesen erreichte, trat unvermittelt ein Fremder in den Warteraum. Yeremi konnte den Mann nur über Sarafs Schulter hinweg sehen. Er war groß, kräftig gebaut, trug einen weiten grauen Sommermantel und hatte zottige schwarze Haare. In seinem breiten, versteinerten Gesicht ließ sich nicht die geringste Regung erkennen. Und dann kreuzte Yeremis Blick den seinen und blieb sofort daran haften, wie ein Insekt an einem Spinnennetz. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Würden die sicheren Bewegungen des Unbekannten sie nicht Lügen strafen, hätte Yeremi seine braunen Augen für gläserne Prothesen gehalten. In ihnen gab es weder Liebe noch Hass. Sie waren kalt, völlig ohne Gefühl oder – wie Saraf sich ausgedrückt hatte – leer.
Der Fremde wollte den Silbermann mit einem Ausfallschritt ausmanövrieren. Er rückte gezielt gegen Yeremi vor. Fast sah es so aus, als gleite er auf Schienen. Yeremi konnte gerade noch erkennen, wie er eine Maschinenpistole unter dem Mantel hervorzog. Sie glaubte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Aber dann reagierte Saraf und versperrte dem Angreifer den Weg.
»Bleib stehen! Wenn du die
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