Der silberne Sinn
Frau töten willst, musst du zuerst mich umbringen. Lautet so dein Auftrag?«
Offenbar besaß der gefühlsleere Bursche, den selbst Sarafs empathische Antennen nicht hatten orten können, andere Instruktionen. Während er die Mündung seiner Waffe weiter auf den Gegner gerichtet hielt, zog er ein Funkgerät aus der Manteltasche. Yeremi hörte ein Knacken, gefolgt von lautem Rauschen, und dann den harten Dialekt eines Ausländers. Ein Rumäne? Ihre Gedanken vermischten sich mit den Worten des Schurken.
»Ich habe sie. Aber es gibt Probleme. Der Silberne Mann steht im Weg.«
Yeremi kam sich vor, als hätte sie Drogen genommen. Die ganze Situation war so unwirklich! Da standen sie nun – jeder belauerte den anderen – und warteten auf die Regieanweisungen irgendeines Unbekannten. Anstatt vor Todesangst zu zittern, sorgte sich Yeremi nur um Saraf. Wenn der Bewaffnete ein Killer Flatstones war und dieser den Silbermann für entbehrlich hielt, dann schwebte nicht sie, sondern er in Lebensgefahr. Sie hätte schwören können, die Temperatur im Warteraum würde rapide fallen. Der Widerling mit der Maschinenpistole schien wie ein Strudel alle Emotionen aufzusaugen. Zur Zeit lauschte er jedoch den Direktiven aus dem Äther. Und diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Saraf.
»Lauf, Jerry!«, rief er über die linke Schulter.
Sein plötzliches Ausbrechen aus der irrealen Stimmung ließ diese wie einen Luftballon zerplatzen. Yeremi erwachte aus der Benommenheit, und ihre Gefühle strömten mit Gewalt in sie zurück: Verwirrung und Beklommenheit, Liebe und Sorge, Hass und Angst.
Der Fremde ließ sein Walkie-Talkie fallen und riss die Waffe hoch. Yeremi zögerte. Sie konnte Saraf doch nicht…
»Nun lauf endlich!«, wiederholte er. »Ich finde dich.« Damit stürzte er sich auch schon auf den Feind.
Eine kurze Salve löste sich, die automatische Waffe meckerte wie eine Ziege. An der Decke raste eine Reihe von Löchern auf Yeremi zu. Dann sah sie eine feine rote Tröpfchenwolke, die wie aus einem Parfümzerstäuber Sarafs Körper entwich. Yeremi schrie. Der Fremde wurde vom Aufprall seines Gegners umgerissen. Die Maschinenpistole schepperte auf den Boden. Sarafs Jacke tränkte sich rasch mit Blut, aber er kämpfte, wie er vor Wochen mit dem schwarzen Jaguar gerungen hatte. Yeremi trat zwei oder drei schnelle Schritte vor. Einige rasende Herzschläge lang versuchte sie, die am Boden liegende Maschinenpistole zu packen. Aber es gelang ihr nicht. Mehrmals rollten die kämpfenden Männer darüber hinweg.
»Flieh, Jerry!«, keuchte Saraf abermals und steckte für die Ablenkung einen schweren Fausthieb ein.
Endlich gehorchte Yeremi. Sie rannte zum Ausgang, stieß die störrische Tür mit einem Fußtritt auf und stürzte hinaus. Hier blieb sie orientierungslos stehen. Das Herz drohte ihr aus der Brust zu springen. Sie weinte, ohne es zu merken. Ihre Gedanken waren mehr als konfus. Sollte sie den Mann im Büro alarmieren? Vermutlich hatte er nach den Schüssen ohnehin längst die Notrufnummer gewählt. Ein Taxi! Die Idee kam ihr schon vernünftiger vor. Tatsächlich erblickte sie ein solches ganz in der Nähe. Sie setzte zum Spurt an. Yeremi war eine gute Läuferin.
Wenige Sekunden später erreichte sie den Wagen und riss die Tür auf. Laute Countrymusic quoll ihr entgegen. Der Chauffeur hatte die Schüsse in dem Gebäude nicht einmal gehört. Erst jetzt drehte er sich um und blickte erstaunt in das tränenüberströmte Gesicht des gehetzten Fahrgastes. Gerade wollte Yeremi in den Wagen steigen, als hinter ihr Reifen quietschten. Sie warf den Kopf herum – und staunte.
»Schnell, springen Sie herein!«, rief Professor McFarell ihr aus seinem silbernen Jaguar S-Type zu; das Beifahrerfenster musste er schon vorher abgesenkt haben.
Yeremi war völlig konsterniert. Woher…?
»Carl hat mir gesagt, ich könne Sie hier finden. Und nun kommen Sie schon!«, fügte der Dekan drängend hinzu.
Aus dem Flughafengebäude ertönte eine weitere Salve.
»Wollen Sie, dass der Kerl Sie umbringt?«, rief der Professor gehetzt.
Yeremi drehte sich noch einmal zu dem Flachbau um, dann riss sie die Tür des Jaguar auf und sprang hinein.
McFarell trat das Gaspedal nieder, und der Wagen jagte wie eine Raubkatze davon.
Yeremi wischte sich mit dem Ärmel ihrer sandfarbenen Jacke die Tränen aus dem Gesicht und blickte starr aus dem Seitenfenster. Bäume und Sträucher flogen vorbei. Sie war noch immer viel zu aufgewühlt, um einen
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