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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fühlte sie den Schmerz, die Verletzlichkeit, die Wertlosigkeit, die Schuld, all die brennenden Gefühle, die ihre Seele nach der Vergewaltigung mit Asche überzogen hatten.
    Saraf nahm sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Weine ruhig, Jerry. Tränen spülen die Bitterkeit fort.«
    Yeremi vergoss viele Tränen in dieser Nacht, und sie spürte, wie gut ihr die Nähe Sarafs, sein Verständnis und sein Mitgefühl taten. Sie fühlte sich anschließend zwar matter als je zuvor, doch auch auf befreiende Weise geläutert.
    Zögernd löste sie sich wieder aus seiner Umarmung, nur ihre Hände hielten sich an seinen fest, und erzählte ruhig den Rest ihrer Geschichte. Nach jener verhängnisvollen Nacht habe sie Therapeuten besucht und lange geglaubt, die Folgen des Missbrauchs überwunden zu haben. Aber das stimmte nicht. Im Dschungel hatte sie von Al geträumt, er war zu ihr gekommen im Körper einer Schlange, das Gesicht haarlos und dunkel wie das eines anderen Mannes, den sie nie vergessen würde… Yeremi schluckte. Darüber zu sprechen fiel ihr nicht leicht. Als sie vor einigen Wochen gespürt habe, wie sich in ihr Gefühle für ihn, Saraf, regten, sei sie zutiefst beunruhigt gewesen. Wie nur konnte sie ihrer Gefühle sicher sein? Vielleicht waren es ja neue Irreführungen, Trugbilder eines empathisch begabten Silbermannes.
    »Die Antwort liegt in dir selbst«, sagte Saraf verständnisvoll. »Menschen, die in sich ruhen, können nur schwer aus dem Gleichgewicht gebracht werden.«
    Yeremi lachte auf eine seltsam traurige Art. »Ich habe mein seelisches Gleichgewicht verloren, als Al über mich hergefallen ist.«
    »Das stimmt nicht«, widersprach Saraf. »Menschen ohne Überzeugung sind leicht zu manipulieren, das war zu allen Zeiten so. Denke an die schwarze Akte deines Urgroßvaters, er hat dasselbe festgestellt. Doch wer glaubt, der kann nur schwer ins Wanken gebracht werden. Im Gedächtnis des Silbernen Volkes gibt es viele Weisheiten, die von den unterschiedlichsten Völkern stammen. Darunter ist auch eine in Latein. Die Römer sagten: ›Credendo vides.‹ – ›Wer glaubt, der sieht. ‹«
    »Dann musst du neuerdings blind geworden sein.«
    »Weil ich dir vertraut habe?« Er strich, wie er es in letzter Zeit häufiger tat, eine Strähne aus ihrem Gesicht, streichelte ihre Wange und erwiderte: »Ich glaube mit ganzer Seele an dich, Jerry, und an meine Liebe zu dir. Damals, im Dschungel, habe ich mit den Gefühlen deiner Gefährten gespielt, weil ich mein Volk schützen wollte. Aber seitdem sind deine Empfindungen für mich tabu. Natürlich habe ich oft dem wunderbaren Klang deiner Gefühle gelauscht, das ließ sich nicht verhindern. Aber was da in dir spielte, das waren ganz allein deine Melodien. Wenn du nur für einen Moment den Vorhang deiner Zweifel beiseite ziehst und deine innersten Gefühle erforschst, dann wirst du die Wahrheit meiner Worte erkennen.«
    Yeremi beobachtete, wie das Mondlicht sich in Sarafs Augen spiegelte, und sie glaubte darin versinken zu müssen. »Ich habe diesen Vorhang schon vor einigen Tagen gelüftet«, flüsterte sie. Auf ihre Lippen schlich sich ein Lächeln, so unbeholfen wie ein sich erstmals erhebendes Rehkitz. Erneut umarmten sie sich. Aber dieses Mal schien sein kräftiges Herz mit jedem Schlag ein wenig mehr von der bleiernen Schwere aus ihrem Körper zu pumpen.
    Endlich gab sie Saraf wieder frei und fühlte sich dabei seltsam leicht. Jede Müdigkeit war verflogen. Nun sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Sie erzählte aus ihrem bewegten Leben, beleuchtete für ihn auch die dunkelsten Winkel ihrer Vergangenheit. Als die Sonne über dem Wald aufging, wusste sie nicht mehr, wie sie dem Menschen an ihrer Seite je hatte misstrauen können. Und dann schloss sich der Kreis, als sie sich an einen Ausspruch von Dave Clarke erinnerte, jenem Mann, der mit den Blumen sprach. Seine weisen Worte wiederholte sie für Saraf mit feierlicher Stimme:
    »Ich glaube, es kommt nicht so sehr darauf an, was wir sehen können, sondern vielmehr darauf, wofür wir unseren Blick öffnen.«

 
    AUF DER FLUCHT
     
     
     
    Gilroy (Kalifornien, USA)
    10. Januar 2006
    10.04 Uhr
     
    Mildred Quingley wohnte in einem blau gestrichenen Holzhaus mit weißen Fensterläden. Es stand in einer ruhigen Wohngegend am Rande von Gilroy. Die Bewohnerin musste ein goldenes Händchen für Blumen haben, denn unter den Fenstern und im Vorgarten blühte es in fröhlichen Farben. Neben dem von Rabatten

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