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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gesäumten Aufgang stand ein Briefkasten mit dem gepinselten Namenszug »Q. Morghan«.
    Yeremi wuchtete die Tür des zehn Jahre alten Jeep Grand Cherokee ins Schloss. Ed hatte seinen vierradgetriebenen »Liebling« nur widerstrebend gegen den Daihatsu eingetauscht und erwartete, das »Schmuckstück« am Abend »ohne jeden Kratzer« am Flughafen außerhalb von Gilroy wiederzufinden.
    Saraf entstieg dem Cherokee auf der Beifahrerseite und lächelte Yeremi aufmunternd zu. »Bald haben wir es geschafft.«
    Sie umrundete den Wagen, ging mit ihm Hand in Hand zur Haustür und drückte den Klingelknopf. Kein Laut war zu hören.
    An der Tür befand sich in Augenhöhe ein Messingklopfer, den Saraf drei-, viermal krachen ließ. Anschließend grinste er Yeremi an. »Die Methode ist vielleicht alt, aber weit weniger anfällig als eure Elektrizität.«
    Sie legte die Stirn in Falten und hoffte einige Herzschläge lang, der Türklopfer würde ebenfalls versagen, aber bald schon näherte sich ein schlurfendes Geräusch. Die Tür wurde nach innen geöffnet, und hinter einem Fliegengitter erschien das fragende Gesicht einer kleinen, vielleicht sechzigjährigen Frau. Sie trug ein alles andere als altmodisch aussehendes cremefarbenes Kleid, das mit winzigen blauen Blümchen übersät war. Nachdem sie die zweite Tür mit dem feinen Drahtgeflecht nach außen geöffnet hatte, bedachte sie die Fremden mit einem argwöhnischen Blick.
    »Sie wünschen bitte?«
    Verabredungsgemäß übernahm Saraf das Gespräch. In fast akzentfreiem Englisch begrüßte er die elegant gekleidete Dame, stellte sich und Yeremi vor und sagte sodann: »Wir müssen dringend mit Ihnen reden, Mrs Quingley.«
    Sie erschrak. Vermutlich hatte sie – abgesehen von Ed Edmundson – lange niemanden mehr ihren wahren Namen aussprechen gehört. Yeremi fiel die Zerbrechlichkeit der kleinen Dame auf. Ja, so wirkte sie – wie ein zartes, feinsinniges Persönchen, das jeden Moment zerspringen konnte. Sie sah blass aus, krank. Ihr besorgtes Gesicht war von schneeweißem, hinten zum Zopf geflochtenem Haar umrahmt. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Der furchtsame Ausdruck in ihrem Gesicht wich einer stillen Freundlichkeit, als Mildred Quingley sich Yeremi zuwandte.
    »Kennen wir uns?«, fragte die feenhaft erscheinende Frau.
    Genau dieselben Worte hatten sich zuvor in Yeremis Kopf geformt. Sie lächelte schüchtern. »Es wäre möglich, Mrs Quingley, und offen gesagt, wünsche ich es mir sogar.«
    Die elegante Dame deutete mit ausgestrecktem Arm in ihr Haus. »Bitte treten Sie doch ein.«
    Yeremi und Saraf folgten der Einladung. Während sich die beiden in ein geschmackvoll mit alten Möbeln eingerichtetes Wohnzimmer führen ließen, flüsterte sie ihm zu: »Hast du den Holzhammer eingesetzt? Warum ist sie mit einem Mal so freundlich zu uns?«
    Saraf lächelte. »Ich habe sie nur ein wenig angestoßen, der Rest stammt von dir, Jerry.«
    Eher abwesend bejahte Yeremi die Einladung zu einem schwarzen Tee. Sie fragte sich, was sie denn getan hatte, um Mrs Quingleys Vertrauen zu gewinnen.
    Bald kehrte die Gastgeberin mit einem Tablett zurück und schenkte den Besuchern dampfenden Tee ein. Inzwischen hatte Yeremi genug Mut gesammelt, um das Gespräch selbst in die Hand zu nehmen. Mit allem Einfühlungsvermögen, zu dem sie sich fähig fühlte, sprach sie über Jonestown, die Weiße Nacht und die Zeit danach; immer wieder flocht sie Fragen ein, die Mrs Quingleys eigene Erfahrungen betrafen. Yeremi konnte spüren, dass sich das Herz ihrer Gesprächspartnerin zunehmend öffnete.
    Bald sprach Mrs Quingley aus, worüber sie fast drei Jahrzehnte lang geschwiegen hatte. »Nun«, sagte sie, »wo ich sowieso nur noch wenige Monate zu leben habe, kann ich auch die ganze Wahrheit sagen.«
    »W-was…?«, stammelte Yeremi betroffen.
    Mrs Quingley lächelte. »Sie müssen mich nicht bedauern, Kindchen. Ich trage die Krankheit schon lange in mir und habe inzwischen gelernt, mich mit dem Unausweichlichen anzufreunden. Wenn man auf Raten stirbt, begrüßt man den Tod wie einen alten Bekannten.«
    Yeremi konnte nicht anders, sie musste Mrs Quingleys zerbrechliche Hand nehmen und halten. »Wir beide haben Sie aufgesucht, weil das Leben vieler Menschen in Gefahr ist. Jackie Tailor, die Senatorin, sagte mir, Sie wüssten vielleicht Dinge über die Vorgänge in Jonestown, die noch nicht in den Zeitungen gestanden haben.«
    »Das ist wohl wahr«, antwortete Mrs Quingley und machte sich daran, Yeremis

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