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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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aus, ich hätte Durst.«
    Leary schwieg, als müsse er zunächst auf ein anderes Programm umschalten. Als er wieder zu sprechen begann, klang seine bis dahin moderate Stimme hart und unbarmherzig. »Ich lasse dir etwas zu trinken bringen. Vielleicht denkst du anschließend noch einmal über meinen Vorschlag nach.«
    »Das glaube ich kaum«, antwortete Yeremi, die Augen fest auf Sarafs bleiches Antlitz gerichtet. »Ich habe für Stan oder Sam oder wie immer euer Chefverräter heißt nur eine Botschaft: Ihr habt einen großen Fehler begangen.«
     
     
    Saraf erwachte kurz nach Learys leisem Abgang. Yeremis letzte Worte mussten auf den Psychologen wie ein bleierner Fluch gewirkt haben, anders konnte sie sich seine Reaktion nicht erklären. Die Nachwirkungen der ihr in den Körper geschossenen Droge nahmen allmählich ab. Sie fühlte sich, abgesehen von dem brennenden Durst, schon erheblich besser. Als sich Sarafs Augen öffneten, wäre sie vor Glück am liebsten in die Luft gesprungen. Ersatzweise drückte sie die Lippen auf seinen Mund. Erst als er unruhig wurde, ließ sie wieder von ihm ab.
    »Du willst mich wohl ersticken«, sagte er mit einem müden Lächeln.
    »Ich freue mich so sehr, dich wieder unter den Lebenden zu sehen!«
    »Aber ich war niemals tot.«
    »Das ist nur so eine Redensart. Hast du Schmerzen?«
    »Im Augenblick nicht. Aber da ist so eine Benommenheit…« Er fasste sich an die Stirn.
    »Das kommt von der Medizin, die sie dir gegeben haben. Al Leary ist hier…« Yeremi verstummte, weil die Stahltür hinter ihr zu rasseln begann. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, Riegel wurden zur Seite geschoben, und dann erschien ein gebeugter alter Mann.
    Der Greis bückte sich, hob vom Boden ein braunes, rundes Tablett auf und betrat die Zelle. Er musste von Leary geschickt worden sein, denn auf seiner Servierplatte standen zwei Plastikbecher und eine Kunststoffkaraffe. Yeremi verfolgte den Wasserträger, als sei er eine übernatürliche Erscheinung. An diesem Mann stimmte etwas nicht. Er vermied jeden Blickkontakt mit den Gefangenen, bewegte sich zaudernd, als müsse er fürchten, von ihnen angesprungen zu werden. Zielstrebig näherte er sich dem freien Bett, das für ihn wohl das geringste Risiko darstellte. Je länger Yeremi den Alten beobachtete, desto jünger erschien er ihr. Anfangs hatte sie ihn auf Ende siebzig geschätzt, aber nun neigte sie eher dazu, ihm zwanzig Jahre nachzulassen. War sie diesem Mann schon einmal begegnet?
    »Halt!«, sagte sie, nachdem er sein Tablett auf ihrer Liege abgestellt und sich wie eine hölzerne Marionette zum Gehen gewandt hatte.
    Er gehorchte.
    Sie erhob sich von Sarafs Bettkante und lief zu dem seltsamen Kerkerdiener hin. Er trug keine Waffen – vielleicht, weil jeder Fluchtversuch zwecklos gewesen wäre. Als Yeremi dem Mann ins Gesicht blicken wollte, sah er scheu zu Boden. Aus irgendeinem Grund konnte sie in ihm keinen Peiniger sehen, vermutete eher einen Mitgefangenen, der sich mit Hilfsarbeiten ein wenig Freiheit erkaufen konnte. Vorsichtig legte sie ihre Hände an seinen Kopf und richtete diesen auf. Ein eisiger Schauer durchlief ihren Körper. Die blauen Augen des Mannes wirkten gebrochen, auf eine furchtbare Weise trostlos. Jedes Gefühl schien in ihnen erstorben zu sein, wenngleich ihnen die Leere des rumänischen Killers Madalin fehlte.
    »Ich kenne dich«, flüsterte Yeremi.
    Der Alte wollte ihrem Blick ausweichen, doch sie hielt seinen Kopf fest.
    Mit einem Mal durchfuhr es sie wie ein Blitz. Ihre Hände sprangen förmlich vom Gesicht des Alten, und sie wandte sich von ihm ab. »Nein!«, schluchzte sie, und alle Kraft stürzte aus ihrem Leib. Ihre Knie gaben nach, und sie sank auf den Boden. Dort blieb sie liegen, geschüttelt von Weinkrämpfen.
    Der Alte stand neben ihr. Sah auf sie herab. Sein Gesicht war unbewegt, reglos wie der ganze Mann.
    Saraf brauchte einige Zeit, um sich von seinem Lager hochzuquälen, den – nun doch – stechenden Schmerz in seiner Seite ins Unterbewusstsein zu verbannen und sich bis zu der Frau am Boden vorzukämpfen. Als er endlich neben ihr kniete und sein warmer Oberkörper, halb schützend, halb sich stützend, auf ihr lag, begann er beruhigend auf sie einzureden. Seine Hand strich immer wieder über ihr Haar. Er konnte nicht mehr für Yeremi tun, als ihren Schmerz in sich aufzunehmen, doch dazu war niemand besser geeignet als er.
    Der Alte beobachtete die Szene scheinbar teilnahmslos. Dabei rührte er sich nicht vom

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