Der silberne Sinn
schien sich dieses Umstands nicht bewusst zu sein. Er blickte seine Tochter liebevoll an und sagte, fast schon heiter: »Aber… Aber sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, oder?«
Yeremi drückte Sarafs Hand. »Ohne dich wäre Papa nie mehr gesund geworden. Damit hat wohl keiner hier gerechnet. Vielleicht können wir uns das zu Nutze machen.«
»Auf jeden Fall sollten wir unser kleines Geheimnis vorerst für uns behalten«, pflichtete der im Bett Liegende ihr bei.
Lars grunzte, was wohl seine neue Art war, Heiterkeit auszudrücken. »Ich habe lange… lange gelernt, mich wie ein Idiot zu benehmen. Jetzt kriegen sie eine Galavorstellung.«
Als die Zellentür aufflog, war der Zeitpunkt für das Theaterspiel gekommen. Feraru Madalin stand in der Tür. Seine Augen starrten wie erkaltete Kohlen auf die unsanft Geweckten.
»Frühstück!«, rief der gefühlstote Rumäne. Aus seinem Mund klang das wie ein Befehl.
An ihm vorbei drängte sich Yeremis Vater in die Zelle, in der Hand ein Tablett mit einer Thermoskanne, zwei Plastikbechern und Papptellern mit Toast und Rührei. Wie ein gebeugter Tattergreis schlurfte er durch den Raum und stellte das Frühstück neben seine Tochter aufs Bett. Während sein Hinterkopf dem Rumänen zugewandt war, zwinkerte er Yeremi verschmitzt zu, dann kehrte der blöde Ausdruck zurück, der ihm so lange das Leben erleichtert hatte. Lars drängelte sich an Madalin vorbei und verschwand im Gang jenseits der Zelle.
»In fünfzehn Minuten komme ich wieder und hole euch ab«, knurrte die Stimme des Rumänen, und es klang fast wie eine automatische Ansage.
»Uns?«, stieß Yeremi hervor. »Saraf Argyr ist schwer verletzt. Er darf sich nicht bewegen.«
»Das ist nicht mein Problem«, erwiderte Madalin und schloss die Zellentür.
Yeremi hatte übertrieben. Saraf war zwar alles andere als fit, aber es ging ihm immer noch erheblich besser als am Tag nach seinem Kampf mit dem Jaguar. Gleichwohl appellierte sie an seine schauspielerischen Talente, er solle nicht allzu gesund aussehen. Saraf versprach, sein Bestes zu tun.
Nach kurzer Zeit kehrte Madalin zurück. Seine Präsenz ließ nicht nur Yeremi schaudern. Die völlige Abwesenheit jeglicher Gefühle war auch für Saraf eine höchst beunruhigende Erfahrung. Während er sich auf Yeremi stützte, schleppte er sich stöhnend und provozierend langsam aus der Zelle in einen kahlen grauen Flur hinaus. Der Rumäne passierte mit ihnen, die rechte Hand ständig an einem Pistolenhalfter, mehrere Sicherheitsschleusen: kleine quadratische Räume mit je einem tresortürartigen Ein- und Ausgang sowie allerlei Elektronik zur Überwachung und Identifizierung. Madalin drückte seinen Daumen auf Fingerabdruckscanner, lieferte an Mikrofonen Sprachmuster ab und präsentierte Kamera-Augen eine Iris, die ebenso kühl und tot war wie die gläsernen Linsen. Allmählich begriff Yeremi, warum ihr Vater jede Flucht aus diesem Berg für unmöglich hielt.
Endlich erreichten sie einen Fahrstuhl. Madalin ließ seinen Geiseln den Vortritt, wenigstens mechanisch beherrschte er die Regeln des Anstandes. Die Bedienelemente in dem Lift gaben keinen Aufschluss darüber, wie viele Stockwerke die unterirdische Anlage hatte. Madalin sagte nur ein Wort – »Audienz« –, und der Aufzug schien zu wissen, was seine Pflicht war.
Die Kabine ruckte, und Yeremi spürte einen Druck in den Knien. Sinnigerweise hieß das Bergmassiv, in dem sie ihren derzeitigen Aufenthaltsort vermutete, Diablo Range, Teufelskette. Momentan bewegten sie sich in der Hölle von McFarell und Flatstone nach oben. Bis der Lift wieder zum Halten kam, zählte Yeremi etwa zwanzig Sekunden. Bei normaler Geschwindigkeit konnte man in dieser Zeit eine ganze Reihe von Stockwerken überwinden.
Als die Fahrstuhltüren sich wieder öffneten, erlebten Yeremi und Saraf eine Überraschung. Sie blickten in einen Konferenzraum, der mit rotem Tropenholz getäfelt war. An der gegenüberliegenden Wand gab es Fenster, durch die Licht hereinströmte. Es handelte sich um Attrappen, wie Yeremi erst beim zweiten Hinsehen erkannte – sie befanden sich immer noch unter der Erde. Hinter dem Kopfende eines langen Tisches hing ein riesiger Bilderrahmen an der Wand, der eine Mona Lisa zeigte, die Yeremi zublinzelte. Das Gemälde war eine digitale Animation.
Im Raum befanden sich drei Personen. Nummer eins lief in diesem Moment lächelnd auf den Fahrstuhl zu, es handelte sich um Al Leary. Der Zweite im Bunde war Professor Doktor
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