Der silberne Sinn
Außendienstler«, beklagte er sich. »Zwar gebildet, aber trotzdem öfters mal grob. Ich sagte ihm, wir müssten uns auf das Potenzial konzentrieren, das in den empathischen Techniken von Medusa steckte…«
»Potenzial?«, unterbrach ihn Yeremi empört. »Sie sprechen von diesen mörderischen Versuchen wie von einer neuen umweltverträglichen Art der Energieerzeugung. Sie wussten doch, was nach dem Reichstagsbrand geschehen ist. Wollen Sie den dritten Weltkrieg, oder worum geht es Ihnen?«
»Wenn er unserem Planeten endlich Frieden brächte – warum nicht?« McFarell bemerkte Yeremis Entsetzen und lächelte nachsichtig. »Sie dürfen sich den Blick auf die Möglichkeiten der Empathie nicht durch einige bedauerliche Vorfälle verstellen lassen, Jerry. Carl Gustav Jung hat einmal gesagt: ›Die Psychologie weiß nicht, was gut und böse ist; sie kennt diese nur als Urteil über Relationen.‹«
»Dieser Zynismus kommt mir bekannt vor. Ist Al Leary zufällig auch einer Ihrer Schüler?«
»Er muss sich noch entwickeln. Aber ich setze große Hoffnungen in ihn.«
»Ha! Dass ich nicht lache! Und jetzt erzählen Sie mir wahrscheinlich, es gehe bei alldem nur um die Wissenschaft zum Wohle der Menschheit.«
McFarell seufzte wie ein nachsichtiger Großvater. »Meine Aufgabe ist, ob Sie es nun glauben oder nicht, die Grundlagenforschung. Flatstone kümmert sich um die Finanzen und praktischen Erprobungen unserer Erkenntnisse.«
»Grundlagenforschung! Praktische Erprobung!« Yeremi äffte den verharmlosenden Ton des Professors nach. »Fallen die Terroranschläge vom 11. September 2001 etwa auch unter die Rubrik ›Praxistests‹?«
Der Professor ließ sich nicht noch einmal aus der Reserve locken. In fatalistischem Ton klagte er: »Die Welt ist ein Chaos. Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann bei uns einen Hurrikan verursachen. Wer vermag da schon von Schuld oder Unschuld zu sprechen?«
Yeremi holte tief Luft und verlangsamte ihren Herzschlag bewusst. Die Diskussion war in eine Sackgasse geraten. Während sie ruhig wieder ausatmete, beschloss sie, einen überraschenden Ausfall zu wagen. »Wo bringen Sie mich hin?«
McFarells gute Laune blieb unerschütterlich. »Zu ein paar Männern, die Sie schon gespannt erwarten, Jerry. Aber bis wir dort sind, wird noch einige Zeit vergehen. Ich schlage vor, Sie schlafen ein wenig.«
Yeremi fühlte, wie Adrenalin in ihre Blutbahn schoss. Die Worte McFarells gellten wie Alarmglocken in ihren Ohren. Sie wusste nur nicht, wovor sie eigentlich gewarnt werden sollte.
Bis der Professor den Finger am Abzug seiner Pistole krümmte.
Ein schnalzendes Geräusch drang aus der Waffe, als würde der Schnappverschluss einer unter Druck stehenden Bierflasche geöffnet. Yeremi spürte schmerzhaft das Eindringen einer Nadel zwischen ihren Rippen. Es folgte ein kurzes Brennen, eine heiße Woge, die ihren Körper durchflutete, dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie verlor die Besinnung.
DER MAULWURFSHÜGEL
Irgendwo in Kalifornien (USA)
10. Januar 2006
21.15 Uhr
Ihr Scharfsinn hat mir schon immer gefallen, Jerry. Sie hörte die vor langer Zeit gesprochenen Worte, als hätten die Schallwellen sie erst jetzt erreicht – der Verstand braucht manchmal lange, um die Ironie zu erkennen. Yeremi schluckte diese Erkenntnis wie eine bittere Medizin. McFarells Stimme drohte in einem Rauschen unterzugehen, das nur in ihren Ohren existierte. Es fehlte nicht viel, und sie wäre wieder in die Bewusstlosigkeit zurückgesunken, aber sie klammerte sich an die Erinnerungsbilder wie an einen Rettungsring.
Ihre Glieder waren zu schwer, um sich vom Fleck zu bewegen. Von irgendwoher hörte sie neue Geräusche: leises Rascheln, ab und zu ein Klappern, Schritte… Spielten ihre Sinne immer noch verrückt, oder waren die Laute real? Yeremi kam sich vor, als liege sie rücklings auf einem Karussell. Ihre Augen waren geschlossen, aber alles drehte sich. Nicht ohnmächtig werden!, beschwor sie sich selbst und lenkte die Gedanken zu den beißenden Erinnerungen zurück, die sie bei Bewusstsein hielten.
Der verborgene Spott des Professors hatte ihr damals geschmeichelt. Erst später warnte Saraf sie vor der dunklen Empathie: Wenn Verführung und Einschüchterung zusammenkommen, bewegt sich der Silberne Sinn auf der Grenze zwischen Finsternis und Licht. Saraf erklärte, dass bereits Kinder, die von ihren Eltern Liebe und Leitung erfahren, sich an ein Wechselspiel der Strenge und
Weitere Kostenlose Bücher