Der silberne Sinn
Yeremi leise. »Werden wir hier bespitzelt?«
Lars blickte zur Decke hinauf. Dann schüttelte er den Kopf. »Wer hierher kommt, der kann nichts mehr verraten.«
»Hat man mit dir und anderen hier unten Experimente angestellt?«
Das Gesicht ihres Vaters verfinsterte sich wieder. Er nickte. »Ich muss jetzt gehen, aber ich komme wieder.« Rasch umarmte er Yeremi, drückte noch einmal Sarafs Hand und verließ die Zelle.
Lars hielt sein Versprechen. Er sagte, es sei drei Uhr morgens, als er in den Kerker zurückkehrte. Yeremi hatte den Zeitsinn verloren, worauf ihre Peiniger vermutlich abzielten, als sie ihr das Chronometer abgenommen hatten. Die letzten achtundvierzig Stunden waren eine Martyrium gewesen. In der letzten Nacht hatte sie überhaupt nicht geschlafen, und auch in dieser fand sie aus Sorge um Sarafs Zustand nicht die ersehnte Ruhe.
Sie schlief bis zum Kommen ihres Vaters höchstens zwei Stunden. Die »Fühlsinntherapie« hatte den Silbermann völlig ausgelaugt, und er fantasierte im Schlaf wie damals im Strandhaus, als sein Stöhnen Yeremi in sein Zimmer getrieben hatte. Zusammen setzten Vater und Tochter sich, Hand in Hand, auf Sarafs Bettkante, und Lars erzählte stockend seine Geschichte:
In der Nacht des 18. November 1978 war er aus Jonestown entführt worden, weil man ihn für einen empathischen Telepathen hielt. Mit ihm sollte auch Yeremi in die versteckten Höhlenlabors verschleppt werden, aber sie war dem verletzten Eugene Smith entwischt, was diesen in Rage versetzt hatte.
Mit der Weißen Nacht war für Lars eine finstere Zeit angebrochen. Man wollte mit aller Macht eine Gabe aus ihm herauskitzeln, die er offenbar nicht besaß. Er wurde den grausamsten Torturen ausgesetzt: Hitze, Kälte, Elektroschocks. Man infizierte ihn mit Krankheitserregern. Immer wieder erprobte man Drogen an ihm, bis seine Seele schließlich in Dunkelheit versank.
Er könne sich nicht mehr erinnern, wann dieses Leben als Zombie begann, sagte Lars bitter. Jedenfalls genieße er seither mehr Freiheiten. Man halte ihn für geistesgestört, aber harmlos. Dabei sei nur sein Gefühlsleben erloschen, sein Verstand glimme noch. Bald durfte er sich innerhalb der Höhlen verhältnismäßig frei bewegen. Leider sei ihm die Flucht aus der streng bewachten unterirdischen Anlage nie gelungen, bedauerte er. Allerdings habe er im Innern des Berges manches gesehen und gehört, was seine Peiniger wohl lieber für sich behalten hätten…
An dieser Stelle hakte Yeremi nach. »Al Leary hat diesen Komplex mit der NORAD-Zentrale im Cheyenne Mountain verglichen.
Der liegt in Colorado. So weit wird man uns wohl kaum transportiert haben, während wir bewusstlos waren. Hast du eine Ahnung, wo wir uns befinden, Paps?«
Auf sein Gesicht trat ein Ausdruck großer Anstrengung, das Denken fiel ihm offenbar noch schwer. »Nicht genau«, erwiderte er zögernd. »Da hat mal jemand… Also, an der Kreuzung in Alum Rock gab’s mal einen Unfall und… Einer der Techniker… Er ist zu spät zum Dienst erschienen.«
»Alum Rock? Ich fahre auf dem Weg nach Berkeley ständig dort vorbei. Hast du vielleicht noch etwas gehört? Irgendetwas? Versuche dich zu erinnern, Papa!«
Lars verfiel wieder ins Grübeln. Yeremi streichelte indessen Sarafs Hand. Mit einem Mal hellte sich das Gesicht ihres Vaters auf. »Das Observatorium! Wir müssen uns in der Nähe einer Beobachtungsstation… Also, davon habe ich sogar mehrmals…«
»Das Lick-Observatorium auf dem Mount Hamilton!«, stieß Yeremi hervor. »Es liegt – ich weiß nicht genau – etwa zwanzig Meilen von Alum Rock entfernt.«
»Dann kennst du die Gegend, wo wir uns befinden?«, fragte Saraf.
»Ungefähr. Wenn wir fliehen wollen, müssen wir die Straße nach Westen nehmen.«
Lars schüttelte heftig den Kopf. »Hast du mir nicht zugehört, Jerry? Das hier… Es ist die Hölle. Aus der entkommt man nicht.«
Sie wollte sich damit nicht abfinden. »Irgendwie müssen wir es trotzdem versuchen, Papa. Hast du je darüber nachgedacht, warum du überhaupt noch lebst?«
»Oft sogar. Mir scheint… Sie werden wohl gehofft haben, ich könne ihnen irgendwann doch noch nützlich sein.«
»Und dieser Tag ist jetzt gekommen.« Yeremis Erleichterung darüber war getrübt. »Doch nun, da sie deine ›begabte‹ Tochter haben, ist der in ihren Augen schwachsinnige Lars Bellman entbehrlich geworden. Saraf und ich haben erst kürzlich erleben müssen, was das bedeuten kann. Du bist in großer Gefahr, Papa!«
Lars
Weitere Kostenlose Bücher