Der silberne Sinn
Fleck.
»Was hat der Mann getan?«, fragte Saraf, als Yeremis Körper nicht mehr von Krämpfen geschüttelt wurde und sie nur noch leise schluchzte.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und blickte ihn voller Schmerz an. »Er hat mich gezeugt.«
Nun zeigte sogar Sarafs sonst immer so ausgeglichene Miene Anzeichen größter Verwunderung. Er blickte zu dem Alten hin, dann wieder in Yeremis Gesicht. »Willst du damit sagen…?«
Sie nickte. »Er ist mein Vater.«
Einige Sekunden lang starrte Saraf nur auf den Boden. In seinem Kopf schien ein riesiges Räderwerk zu arbeiten. Dann wandte er sich wieder Yeremi zu. »Das ist niederträchtig von Jefferson Flatstone. Er will dir demonstrieren, was mit dir geschieht, wenn du nicht mit ihm zusammenarbeitest.«
Yeremi hob eine Hand, die eher wie eine Kralle aussah, und fuchtelte damit vor Sarafs Gesicht herum. »Aber was haben sie mit Papa gemacht? In ihm ist es so… still.«
Saraf rückte näher an sie heran, bettete ihr Gesicht an seiner Brust und streichelte ihren Rücken. »Wie stark der Silberne Sinn schon in dir ist! Du hast Recht. Sie müssen seine Seele durch ein Feuer geschickt haben, bis sie empfindungslos geworden ist. Seine Gefühle sind verkrustet. Aber vielleicht ist noch nicht alle Hoffnung verloren.«
Sie hob den Kopf und schaute ihm in die Augen. »Wie meinst du das?«
»Der Mann, der mich heute mit seiner Waffe niedergestreckt hat, ist ein Ungeheuer. Es ist, als hätte man die Gefühle aus ihm herausgeschnitten. Aber bei deinem Vater… Wie soll ich das anders erklären?… Warte!«
Saraf erhob sich ächzend, drückte dabei seine Hand in die linke Seite und kam schließlich vor dem apathischen Alten zum Stehen. Mindestens eine Minute lang sah er ihn nur ruhig an. Yeremis Vater wich den strahlenden blauen Augen des Silbermannes aus und fixierte einen imaginären Punkt am Boden. Dabei schwankte er unruhig hin und her. Saraf rückte um einen Zoll näher und tat scheinbar nichts weiter, als den Alten anzusehen. Dessen Nervosität steigerte sich. Er stieß unwillige Laute aus, hob wie zur Abwehr die Arme, ließ sie dann aber wieder sinken.
Yeremi verfolgte wie gebannt das seltsame Schauspiel. Über ihre Wangen rollten Tränen. Als Saraf plötzlich die Hände des greisenhaften Mannes ergriff, hielt sie den Atem an. Sie fürchtete, ihr Vater könne um sich schlagen, doch stattdessen wurde er mit einem Mal seltsam ruhig.
»Wie lautet doch gleich sein Name?«, fragte Saraf, nur sein Kopf war leicht in Yeremis Richtung geneigt.
»Äh.« Sie räusperte sich. »Er heißt Lars.«
Saraf bedankte sich mit einem Nicken. »Und jetzt setzen wir uns, Lars«, sagte er zu dem verschüchterten Alten. Damit schob er ihn langsam rückwärts, bis Lars Bellmans Beine gegen Yeremis Bett stießen. Sarafs Stimme klang unglaublich beruhigend, als er sagte: »Nimm Platz, Lars. Wir wollen uns unterhalten.«
Lars gehorchte.
Yeremi konnte nicht mehr untätig zusehen. Sie drückte sich vom Boden hoch und eilte an ihres Vaters Seite. Saraf mahnte sie zu maßvolleren Bewegungen.
Was nun folgte, hätte Männern wie Al Leary bestenfalls ein ungläubiges Kopfschütteln abgenötigt. Mit sanften Worten gelang es Saraf, die Seelenblockade des Mitgefangenen zu lösen. Nach einigen Minuten begann Lars zu sprechen, und in seine gebrochenen Augen kehrte ein Schimmer zurück, der Yeremi an den Widerschein einer Kerze in finsterer Nacht erinnerte. Die psychischen Wunden, die man ihrem Vater zugefügt hatte, waren selbst für den Silbernen Sinn zu groß, um sie einfach ungeschehen zu machen, aber in seiner vernarbten Seele begann Lars wieder zu fühlen. Ein Abglanz seines verschütteten Wesens kehrte in ihn zurück.
Mit neuen Augen betrachtete er seine Tochter. Und nun fingen beide an zu weinen. Minutenlang lagen sie sich in den Armen. Die Tränenflut wollte kein Ende nehmen.
Saraf betrachtete erschöpft, aber mit stiller Freude die Wiederkehr des Glücks an diesen trostlosen Ort. Nach einer Weile begann er dann doch zu drängen: »Man wird deinen Vater schon vermissen. Er sollte jetzt wieder dorthin zurückkehren, woher er gekommen ist.«
Lars wandte sich dem Silbernen Mann zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Du bist ein guter Mensch. Danke.«
»Ich liebe deine Tochter«, antwortete Saraf. »Auch sie ist gut, und ich denke, daran bist du nicht ganz unbeteiligt.«
Lars lächelte auf eine Weise, als entdecke er diese Regung gerade eben wieder.
»Papa«, sagte
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