Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
großartigen Wissen der Erbauer. Möchten Sie jetzt das Gedächtnis des Silbernen Volkes sehen oder nicht?«
    Flatstones Wut verrauchte ebenso schnell, wie sie gekommen war. Seine Knopfaugen funkelten gierig. »Und keine weiteren Fallen?«
    Sarafs Gesicht blieb ausdruckslos. »Der Schatz ist schon zum Greifen nahe.« Damit wandte er sich um und lief voraus.
    Der Tunnel neigte sich nun stark nach unten und beschrieb dabei eine enge Linkskurve. An dieser Stelle vermochte wohl ein einziger Hüter den Schatz gegen eine große Übermacht zu verteidigen. Nach weniger als zweihundert Metern mündete der Gang in einer großen, runden Halle. Saraf schritt bis zur Mitte des riesigen Felsendoms voraus. Madalin blieb dicht hinter ihm. Mit in den Nacken gelegtem Kopf, den Lichtstrahl der Taschenlampe nach oben gerichtet, stolperte Flatstone hinterher.
    »Das ist fantastisch!«, stieß er hervor. »Ich kann mit Mühe die Decke sehen.«
    »Und was erkennen Sie?«, fragte Saraf.
    »Es sieht aus wie in einer Tropfsteinhöhle, Hunderte von Stalaktiten, nur regelmäßiger angeordnet.«
    »Es ist ein Meisterwerk meiner Vorfahren.«
    Flatstone nahm den Blick von der Decke und sah nun direkt in Sarafs Gesicht. »Ich werde mich ihm später widmen. Nun sollten wir zum eigentlichen Zweck unseres Ausflugs kommen. Wo ist das Gedächtnis?«
    Der Silbermann drehte den Oberkörper und zeigte in die dem Eingang gegenüberliegende Richtung. »Dort.«
    Flatstones Lichtfinger folgte Sarafs ausgestrecktem Arm und stieß in weiter Ferne gegen eine gebogene Wand. Zahllose Reihen tiefer Alkoven waren darin zu sehen. Die ganze hintere Hälfte der Halle schien ein einziges kolossales Regal zu bilden. So besehen, erfüllten sich Flatstones Erwartungen: In den Regalen und Nischen des Felsendoms standen vermutlich Myriaden von Büchern. Der Stheno-Chef deutete mit seiner Taschenlampe zur Wand. »Gehen Sie voran. Und keine Mätzchen!«
    Saraf schritt mit demselben würdevollen Gang, dessen er sich schon bei der Durchquerung Machu Picchus bedient hatte, durch den Dom. Hinter sich hörte er Flatstones misstrauische Stimme.
    »Bleiben Sie ein Stück zurück, Madalin. Das könnte eine Falle sein. Wenn er zu fliehen versucht, legen Sie ihn um.«
    Aus der Nähe würde bald das ganze Ausmaß der Bibliothek erkennbar. Die Regale waren nun gleichfalls als schmale, in den Fels gehauene Nischen zu erkennen, die sich über die gesamte hintere Hallenwand erstreckten und auch sämtliche Alkoven ausfüllten. Saraf blieb neben einer hüfthohen, viereckigen Säule stehen, auf der ein eiförmiger Gegenstand ruhte. Und hier endete Flatstones Euphorie, um sogleich in grenzenlose Überraschung umzuschlagen.
    Er hatte nicht wirklich mit modernen Büchern oder Kodizes gerechnet, eher schon mit Tontafeln, Papyri, Pergamenten, Rollzylindern oder anderen Schriftträgern, wie man sie aus dem Altertum kannte – aber nicht damit: Der weißgelbe Strahl seiner Halogenlampe wanderte über Abertausende von Totenschädeln.
    »Was soll das?«, keuchte Flatstone. Er stand acht oder zehn Schritte vom Silbermann entfernt. Seine weit aufgerissenen Augen sprangen zwischen diesem und den Schädeln hin und her.
    Sarafs Stimme bewahrte noch immer Würde. »Fürst Roca wusste den Wert dieses Schatzes zu würdigen. Sie sehen, was ich Ihnen versprochen habe: das Gedächtnis des Silbernen Volkes.«
    Flatstone drohte zu kollabieren. »Ich habe eine Sammlung von Dokumenten erwartet«, schrie er. Speichel spritzte ihm aus dem Mund. »Ein wenig Inkagold als Dreingabe wäre auch nicht schlecht gewesen. Aber was soll ich mit Totenköpfen anfangen?«
    »Der Schädel ist der Tempel, in dem unser Geist wohnt«, antwortete Saraf ehrfürchtig.
    »Der dürfte bei den Kameraden hier längst ausgezogen sein«, spöttelte Flatstone.
    »Das sollten Sie nicht sagen, Jefferson Flatstone«, gab Saraf zurück. Der Ton seiner Stimme ließ Madalin aufhorchen. »Den Goldschatz gibt es schon lange nicht mehr. Fürst Roca hat damit das Lösegeld bezahlt, das Pizarro für die Freiheit von Inca Atahualpa verlangte. Diese Schädel sind alles, was Sie hier finden werden. Sie sind Schatz genug. In dieser ›Gedächtnisgruft‹ ruhen die Geistestempel der Weisen und Edlen des Silbernen Volkes. Am bedeutendsten ist dieser hier.« Saraf deutete auf den Totenkopf, der neben ihm auf der Säule ruhte. »In ihm arbeitete einst ein großer Verstand. Er gehörte einem Mann, der jenseits des großen Meeres geboren wurde. Mein Volk nahm seinen

Weitere Kostenlose Bücher