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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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eine empathische Gabe«, lautete Learys Urteil. Und dann hatte er sie gefragt: »Spürst du das denn nicht?«
    Yeremi war sich nicht sicher, ob sie es fühlte. Was hatte sie da eben schon getan? Sie trotzte Learys Zudringlichkeit, wie es jede couragierte Frau tun würde. Und die Art und Weise, wie sie ihm zuvor Flatstones geheime, auf einer »empathischen Kettenreaktion« basierenden Pläne entlockt hatte…?
    Rhetorische Tricks. Ihr Blick wanderte verstohlen zu dem Psychologen hin, der sie belauerte wie eine Katze die Maus. Nein, da musste noch etwas anderes sein. Auch Flatstone waren auf dem Flug einige hoch brisante Informationen herausgerutscht, bis Madalin ihn schließlich stoppte. Was hatte Saraf gesagt? Denke daran, wer du bist. Was nur wollte er ihr damit sagen?
    Sie schloss die Augen und befahl ihrem Geist, sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren. Um zu überleben, musste sie fliehen. Als sie Leary erneut ansah, bemerkte sie seinen forschenden Blick. Er hätte in diesem Moment allzu gerne ihre Gedanken oder wenigstens ihre Gefühle gelesen, aber das gelang ihm nicht. Nicht ihm! Als er erneut zur Wand mit dem nun wieder unsichtbaren Höhleneingang hinüberblickte, arbeitete Yeremi weiter an ihren Stricken.
    Die Zeit des Wartens schleppte sich träge dahin. Leary wurde immer nervöser. Mehrmals sprang er, wie von einem Insekt gebissen, auf, lief zu der Felswand, nur um gleich wieder umzukehren. Hierauf konnte er minutenlang auf seinem Stein sitzen und Yeremi mit hungrigen Blicken verschlingen. Dann wieder drückte er unerwartet die Sprechtaste an seinem Walkie-Talkie und rief seinen Boss – aber nur ein Rauschen kam aus dem Lautsprecher. Yeremi spürte, wie sich sein Unwille zunehmend auf sie richtete.
    »Glaubst du, Flatstone erhebt Ansprüche auf dich?«, fragte er unvermittelt.
    Yeremi spitzte alarmiert die Ohren. »Glaubst du, ich sei ein Häschen, das man zum Streicheln herumreicht, bevor man ihm am Ende doch das Fell über die Ohren zieht?«
    Diesmal erhob sich Leary sehr langsam von seinem Felsen und näherte sich ihr mit vorgehaltener Waffe. »Du hast deine Jungfräulichkeit schon vor Jahren verloren. Wofür willst du dein Leben opfern?«
    Wieder stieg der Duft von Cool Water in Yeremis Nase. Sie blickte in die Mündung von Learys Revolver und beobachtete, wie sich seine Linke ihrem Gesicht näherte. Nein!, schrie alles in ihr. Nie wieder! Plötzlich verharrte seine Hand. Sie spürte seine Wärme in ihrem Gesicht und glaubte, es müsse verbrennen. Doch ihre dunklen Augen glühten wie Kohlen, während sie ihn offen ansah. Wie lange würde sie in diesem stillen Zweikampf noch die Oberhand behalten? Zweifel stiegen in ihr auf. Und mit einem Mal setzte sich Learys Hand wieder in Bewegung.
    Sie wanderte zu ihrem Blusenausschnitt herab, näherte sich dem obersten Knopf. Niemals!, bäumte sich Yeremis Wille auf, und mit diesem Gedanken sprang sie hoch. »Nimm deine dreckigen Finger weg!«, schrie sie. Leary stolperte überrascht nach hinten, doch auch Yeremi fand keinen sicheren Stand. Sie hatte ihre zwar lockeren, aber immer noch vorhandenen Fußfesseln vergessen und verlor das Gleichgewicht.
    In diesem Moment stieg ein beunruhigendes Geräusch vom Boden auf, ein tiefes Grollen. Der ganze Berg schien zu vibrieren. Es hörte sich wie der Vorbote eines Erdbebens an. Leary fuhr herum und blickte zum Höhleneingang. Er blieb fest verschlossen. Während Yeremi ihren Sturz mit ausgestreckten Händen abfing, lief der Psychologe zur Felswand und schrie in sein Walkie-Talkie.
    »Flatstone, hier Leary. Was ist passiert? Over.« Mit zunehmend schriller Stimme setzte er den Funkspruch immer und immer wieder ab.
    Hätte er dabei nur eine Sekunde auf Yeremi geachtet, wäre ihm zweifellos aufgefallen, dass ihre Hände frei waren. Noch im Fallen hatte sie die Fesseln abstreifen können. Nun saß sie auf dem Boden und löste hastig den Strick an ihren Fußgelenken.
    »Flatstone! Madalin! Hier spricht Leary. Melden Sie sich doch! Over. «
    Endlich stand Yeremi auf ihren Beinen. Für eine Lagebeurteilung blieb ihr nicht viel Zeit. Schon erstarb das Grollen im Berg. Gleich würde sich Leary zu ihr umwenden. Einen Herzschlag später hatte sie ihren Entschluss gefasst.
    Sie lief zu dem Felsen, der dem Psychologen eben noch als Sitzplatz gedient hatte, und schnappte sich dessen Taschenlampe. Anschließend kickte sie die zweite, aufrecht am Boden stehende Halogenleuchte wie das Ei im American Football aus dem Spielfeld.

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