Der silberne Sinn
Schädel mit, um den Geist des Friedens und der Verständigung, den er in seinem Leben verkörperte, hierher zu tragen.«
»Und wer soll das sein?«, fragte Flatstone genervt.
»Atlax vom Meer. Ich stamme in direkter Linie von ihm ab.«
»Wie aufregend! Der Totenkopf eines unbekannten Weisen…«
»Er dürfte auch für Sie kein Fremder sein«, unterbrach Saraf den arroganten Abgesang Flatstones. »Ihnen ist er wahrscheinlich besser unter seinem griechischen Namen bekannt: Atlas, Sohn des Poseidon, König von Atlantis.«
Jetzt staunte Flatstone doch. Die Langeweile war in einem Augenblick verflogen, und der Sammler exklusiver Raritäten erwachte in ihm. Der Schädel des sagenhaften Königs von Atlantis – auch das war ein Schatz von Wert.
»Wenn Sie die wahre Kostbarkeit dieser Schädel nicht erkennen«, verkündete Saraf und erwog zugleich, was im Geist seines Kontrahenten vor sich ging, »dann soll es so sein. Aber wenigstens diesen einen hier werden Sie wohl schätzen. Kommen Sie ruhig, und nehmen Sie ihn in die Hand.«
Flatstone wollte schon zu der Säule gehen, verharrte aber plötzlich mitten im Schritt. Ein diabolisches Lächeln kroch über sein Gesicht. »Nein, Silberner Mann. Das ist eine Falle, nicht wahr? Wenn ich den Totenkopf vom Sockel nehme, werde ich von Pfeilen durchbohrt oder eine Feuerwalze macht Frühstücksspeck aus mir – oder was immer Ihre kranken Vorväter sich noch haben einfallen lassen.«
»Soll ich den Schädel holen?«, erbot sich Madalin.
»Nein«, antwortete Flatstone und deutete mit dem Kopf auf den Silbermann. »Er wird ihn uns bringen.« Damit wandte er sich wieder Saraf zu. »Zeige mir deinen König, und ich werde mir überlegen, ob ich dich trotz deines Betrugs leben lasse.«
»So soll es sein«, sagte Saraf. Wie in einem feierlichen Ritual drehte er sich zur Säule hin, setzte beide Hände an die Seiten des Schädels und hob ihn wie eine kostbare Königskrone an.
Hierauf geschah etwas Ungewöhnliches: Die Säule bewegte sich um einen Fingerbreit nach oben, dann begann sie langsam in den Boden zu sinken.
»Was hat das zu bedeuten?«, stieß Flatstone mit schriller Stimme hervor.
»Soll ich ihn abknallen?«, erkundigte sich Madalin.
»Nein, ohne ihn kommen wir hier nicht lebend raus.«
Saraf drehte sich zu den beiden um, wodurch die leeren Augenhöhlen des Schädels sie unverwandt anglotzten. Atlax vom Meer schien dabei höhnisch zu grinsen. »Kommen Sie, holen Sie sich Ihre Beute«, sagte der Silbermann mit lockender Stimme.
Die Säule ragte nur noch ein paar Fingerbreit aus dem Boden.
Flatstone riss vor Madalin die Hand hoch und schrie: »Nicht bewegen!« Panik drohte ihn zu übermannen.
Mit einem dumpfen Klacken verschwand der Sockel im Boden. Gleich darauf erfüllte den Felsendom ein Geräusch, das an einen fernen Gewitterdonner erinnerte.
Saraf blickte nach oben.
Flatstone und Madalin legten ihrerseits die Köpfe nach hinten. Erst jetzt sahen sie die Stalaktiten aus Obsidian wie schwarze Schwerter auf sie zu rasen.
»Wenn du mich anrühren willst, musst du mich zuerst erschießen.« Zum wiederholten Mal wehrte Yeremi nun schon die anzüglichen Bemerkungen Learys ab, und in die letzte Zurückweisung hatte sie ihre ganze Willenskraft gelegt. Zwar war er noch nicht handgreiflich geworden, aber es fehlte nicht mehr viel. Mit dem Revolver in der Hand war er auf Tuchfühlung zu ihr gegangen und hatte erklärt, wie sehr er sie begehre. Yeremis Herz raste. Ihre Hände waren feucht. Würde sie im Ernstfall rechtzeitig die Fesseln abstreifen können, um sich zu wehren?
Man glaubt oft ohnmächtig zu sein, ist aber so gut wie nie wehrlos. Die Erinnerung an Sarafs Worte gab ihr Kraft. Sie ließ sich ihre Erregung nicht anmerken, umgab sich mit einer Aura der Stärke. Und sie wunderte sich: In Learys eben noch so lüsternem Blick war plötzlich Unsicherheit zu erkennen. Oder hatte er Angst? Als Psychologe dürfte er gelernt haben, die Körpersprache anderer Menschen zu verstehen. Konnte er sehen, welche Kräfte er da herauszufordern drohte? Yeremi war sich ihrer erst kürzlich wieder entdeckten Gabe ja selbst nicht sicher. Hatte sie die Verzagtheit in Learys Herz gepflanzt?
Der Psychologe zog sich auf seinen Felsen zurück und starrte Yeremi grimmig an. Einmal mehr hallten seine während der Guyana-Expedition geäußerten Worte durch ihren Sinn. Sie hatten über die kollektiven Albträume gesprochen, über Sarafs Silbernen Sinn. »Es handelt sich eindeutig um
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