Der silberne Sinn
heftig zurückschrecken. In solchen Momenten wurde die Oberfläche der gestandenen Wissenschaftlerin durchscheinend, und darunter trat für Augenblicke das verletzliche Mädchen zu Tage. Dem ungeübten Beobachter mochten derlei flüchtige Eindrücke entgehen, weil er im nächsten Moment schon wieder die undurchdringliche Fassade einer Wissenschaftlerin sah, einer selbstbewussten Frau, die mit der Universität verheiratet war und niemandem traute außer sich selbst und einer handverlesenen Schar ihr nahe stehender Menschen.
Zu diesen zählten ihre Großeltern Carl und Fredrika, ihre Freundin und entfernte Verwandte Sandra Schroeder sowie seit der Studienzeit auch Stan McFarell, der Dekan der Anthropologischen Fakultät von Berkeley. Letzterem musste vor mehr als einem Dutzend Jahren ein Engel nahe gelegt haben, sich der Bellman-Erbin anzunehmen, die den Ruf einer schwierigen jungen Dame besaß. Im Moment zweifelte Yeremi allerdings an den guten Absichten ihres Mentors.
Allmählich fand sie in die Wirklichkeit zurück. Die Worte von Professor Doktor Stanley A. McFarell schienen aus weiter Ferne zu kommen. Warum hat Stan ausgerechnet diesen Film für seinen Vortrag benutzt?, fragte sich Yeremi. Er weiß doch, wer das Mädchen auf den letzten Bildern ist. Wieso zwingt er mich, alles noch einmal zu durchleben?… Will er mich provozieren? Nein. Yeremi schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Derlei Hinterhältigkeiten gehörten nicht zu Stans Art, zumindest nicht gegenüber Menschen, die er schätzte, und als solchen betrachtete sie sich. Trotzdem: Laut höchstrichterlicher Verfügung mussten die Filmsequenzen, auf denen sie zu erkennen war, unter Verschluss gehalten werden; nur Wissenschaftler mit einem begründeten Forschungsvorhaben durften sie sehen. Natürlich gehörte es für einen einflussreichen und bisweilen sogar schlitzohrigen Gelehrten wie Stanley McFarell zu den leichtesten Übungen, einen solchen Nachweis zu erbringen, aber neben dem juristischen Recht gab es immer noch ein moralisches, und das hatte Yeremi auf ihrer Seite, zumindest glaubte sie es. Professor McFarell dozierte über »Die Bedeutung der Empathie im Wandel der Zeiten« – oder präziser, er verkörperte seinen Stoff wie ein brillanter Mime: routiniert, ohne abgedroschen zu klingen, faktensicher und doch bar jeder Überheblichkeit, humorvoll, aber keinesfalls albern. Psychologische Anthropologie war sein Spezialgebiet. Yeremi lauschte missmutig, wenngleich auch fasziniert, den abschließenden Ausführungen des Wissenschaftlers. Stan war ein begnadeter Lehrer. Insgeheim musste sie ihm selbst jetzt, da in ihrem Magen feuriges Magma zu brodeln schien, Anerkennung zollen.
Äußerlich war der vierundsechzigjährige Psychologe eher unscheinbar: mittelgroß, schwergewichtig, bekrönt von einem schlohweißen Haarkranz. Schon oft hatte sich Yeremi gefragt, ob Stanley McFarells Wirkung auf andere Menschen etwas mit seinen blassgrünen Augen zu tun hatte, die bald kalt wie Gletschereis funkelten, bald Wärme versprühten wie die Seelenfenster eines gutmütigen Großvaters, dem man alles anvertrauen mochte. Zweifellos besaß der Professor eine Aura, die Menschen in ihren Bann ziehen konnte. Auch die gut fünfzig Hörer im Auditorium waren gefesselt. Kein Student schlief, und niemand schlürfte geräuschvoll an seiner Coladose.
»Wie gezeigt«, resümierte McFarell, »definieren wir in der Psychologie die Empathie als Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Einstellung anderer Menschen einzufühlen. Doch sie ist weit mehr als bloßes Mitgefühl. Je mehr Empathie eine Person besitzt, desto eher kann sie die einzigartigen Erfahrungen eines anderen Menschen verstehen und darauf reagieren. Aber Vorsicht! Das Paradox der Empathie ist ihre Zweischneidigkeit. In gewisser Hinsicht gleicht sie einer aufgemotzten Chevrolet Corvette mit dreihundert Pferdestärken: Man kann mit ihr sowohl majestätisch über den Boulevard rollen und dabei eine Menge Herzen höher schlagen lassen, als auch die Angebetete im Jettempo zur Entbindungsklinik katapultieren, sollten die Wehen plötzlich einsetzen; aber die Corvette lässt sich auch als Waffe gebrauchen, etwa um schwächer motorisierte Zeitgenossen in den Straßengraben zu schubsen. Ebenso verhält es sich mit der uns angeborenen Gabe der Empathie, die wir sowohl in hilfsbereiter als auch in verletzender Absicht einsetzen können. Männer wie auch Frauen haben zu allen Zeiten die Gefühle und Gedanken ihrer Mitmenschen
Weitere Kostenlose Bücher