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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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mir die Bilder erspart?«
    McFarell öffnete den Mund, holte Luft, sagte aber nichts. Nur seine grünen Augen ruhten auf Yeremis Gesicht. Hörbar atmete er wieder aus.
    »Sagen Sie mir den Grund!«, entfuhr es Yeremi, heftiger als beabsichtigt.
    McFarells Antwort kam leise, beinahe so, als zweifele er noch, ob er sie wirklich aussprechen dürfe. »Ich wollte herausfinden, ob Sie der vermutlich größten Herausforderung Ihres Lebens gewachsen sind.«
    Yeremis Zorn wich einem unangenehmen Gefühl der Beklommenheit. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Worauf wollen Sie hinaus, Stan?«
    Der Dekan blickte über ihre Schulter zu den leeren Sitzreihen hinauf. »Lassen Sie uns darüber in meinem Büro reden, Jerry. Diese Angelegenheit dürfte zu brisant sein, um sie ausgerechnet in einem Hörsaal zu besprechen.«
     
     
    Die Anthropologische Fakultät von Berkeley residierte in der Kroeber Hall, einem lichtgrauen, kantigen Bau mit dem spröden Charme eines Schuhkartons. In Professor McFarells Arbeitszimmer spürte man davon jedoch wenig. Eine Mischung aus Gediegenheit und Chaos herrschte in dem mit Zedernholz getäfelten Raum. Überall lagen Bücher verstreut, auch auf dem mit Perserteppichen dekorierten Fußboden. Ein Viertel des Zimmers war mit einer opulenten Sitzecke aus schwarzem Leder ausgestattet, die dem Dekan als gepolsterter Kampfplatz diente, sowohl für hitzige wissenschaftliche Diskussionen als auch für jene unvermeidlichen Auseinandersetzungen, die seine administrativen Pflichten mit sich brachten. Sein Lieblingsmöbel war jedoch der Eichenschreibtisch aus dem Nachlass eines spanischen Kapitäns: sechzehntes Jahrhundert, rotbraun und gewaltig. Auf dem Möbel stapelten sich Akten, Fachliteratur, unredigierte Manuskripte, ein Schrumpfkopf, mehrere Keramik-Artefakte aus der Inka-Zeit, ein offener Teakholzkasten mit einem Schiffskompass aus Messing und andere nützliche Utensilien.
    Yeremi saß mit gestrafftem Rücken auf der Kante eines der wuchtigen Sessel und reckte ihrem am Schreibtisch sitzenden Mentor herausfordernd das Kinn entgegen. »Ich habe in Brasilien mit Anakondas gerungen und bin in Peru unter Mumien begraben worden. Warum denken Sie, diese Aufgabe könnte mich überfordern?«
    Der Dekan blickte seine Assistenzprofessorin, die ihn an ein trotziges Kind erinnerte, über den Rand eines dampfenden Kaffeebechers hinweg an; auf dem Gefäß prangten in goldener Farbe die Pyramiden von Giseh. McFarells Brillengläser beschlugen, während er sich Zeit für seine Antwort nahm. Er taxierte die zusehends verschwimmende Yeremi wie ein Rennpferd, das ihm im Wettbüro zu Reichtum verhelfen sollte. In den letzten drei, vier Jahren war sie gereift, im besten Sinne des Wortes. Selbstbewusst und mental gefestigt, präsentierte sie sich auch physisch in Bestform. Ihr schlanker Körper war durch etliche Marathonläufe gestählt. Mit ihren ein Meter achtundsiebzig erreichte sie zwar nicht ganz das Gardemaß eines Modells, war für den Laufsteg insgesamt wohl auch zu sehnig und oben herum zu flach gebaut, aber dafür besaß ihr Gesicht etwas Exotisches, das sich auf der Titelseite von Frauenmagazinen durchaus gut machen würde. In ihren Adern floss deutsches, schwedisches, italienisches und mexikanisches Blut. Wenn sie – wie jetzt – wütend war, funkelten ihre dunkelbraunen Augen besonders intensiv und boten einen hinreißenden Kontrast zu ihren schulterlangen goldblonden Locken. Ihre hohen Wangenknochen, die gerade, schmale Nase und das spitz zulaufende Kinn verliehen ihr einen fast aristokratischen Ausdruck.
    McFarell nickte wie jemand, dem gefiel, was er gesehen hatte, bevor er gänzlich erblindet war. Beim Abstellen des Bechers verschüttete er etwas Kaffee über eine noch ungeprüfte Doktorarbeit. Er nahm die Lesebrille ab und putzte sie bedächtig mit seiner rotblau gestreiften Seidenkrawatte, den Blick weiter auf Yeremi gerichtet. Sie kannte ihren Mentor als einen Mann, der sich nicht schnell aus der Ruhe bringen ließ. Auch jetzt klang er völlig entspannt, als er erwiderte: »Schlangen und Mumien sind eine Sache, Jerry. Ich frage mich allerdings, ob Sie auch fähig wären, die Götter herauszufordern.«
    Yeremi starrte McFarell verständnislos an. Mit einem Mal warf sie den Kopf in den Nacken und stieß ein leises Lachen aus. »Nehmen Sie ‘s mir nicht krumm, Stan, aber mein Verhältnis zu geistigen Sphären ist ziemlich gestört, seit ein Mann, der sich seinen Anhängern als Reinkarnation

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