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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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der Höhle, die sie unter den Wurzeln eines Baumes entdeckt und in der sie Schutz vor dem Sturm gesucht hatte. Sie reckte den Kopf nach oben. Dabei erinnerte sie ihr Hals schmerzhaft an Eugenes »Andenken«.
    Regen tropfte ihr ins Gesicht. Das Klopfen näherte sich mit großer Geschwindigkeit. Es war nichts zu sehen, aber die Baumwipfel fingen an zu zittern, und bald peitschten sie wie wild hin und her. Hubschrauber! Jerrys Lippen formten das Wort, ohne einen Laut von sich zu geben. Keinen Mucks! Kam da die von Mutter versprochene Hilfe?
    In der Finsternis hatte Jerry nicht weit in den Dschungel vordringen können. Nun wagte sie sich bis zum Rand des gerodeten Areals vor. Wie vermutet, schwebten darüber riesige Schatten. Kaum hatten die vier Helikopter den Boden berührt, entließen sie einen Schwarm kleinerer Schemen. Sollte das die Hilfe sein? Für Sanitäter bewegten sich die Leute sehr ungewöhnlich.
    Zahlreiche Gestalten liefen aus der Siedlung und dem Dschungel herbei, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen – anscheinend hatten sich doch viele Menschen des tödlichen Gebräus enthalten. Aber dann geschah etwas Furchtbares. Die Leute aus den Hubschraubern hoben Gewehre – nein, im Licht der Scheinwerfer konnte Jerry es nun deutlicher erkennen: Es waren Armbrüste.
    Als die »Helfer« zu schießen begannen, drang kein einziger Laut zum Dschungelrand vor. Nur die Schreie der Getroffenen markierten die Treffer.
    Wie zu Stein erstarrt, verfolgte Jerry das Unfassbare, beobachtete, wie die Männer aus den Hubschraubern ihre Bolzen verschossen. Nicht wenige Bewohner der Siedlung versuchten in den Regenwald zu entkommen. Den meisten erging es wie jenem Mann, der, ohne es zu wissen, direkt auf Jerry zurannte: Ein Pfeil traf ihn mitten ins Herz. Andere hofften wohl auf die Gnade der lautlosen Mörder – jedoch vergeblich. Mehrere Siedler wurden von Soldaten mit dem Gesicht voran zu Boden geworfen, während ein weiterer Bewaffneter ihnen mit irgendetwas Kleinem zwischen die Schulterblätter stach. Die Gegenwehr der Gefangenen ließ schnell nach, bis sie schließlich ebenso erschlafften wie jene, die zuvor den Saft getrunken hatten.
    Das Morden war noch im Gange, als zwei Verletzte auf Bahren zu einem Hubschrauber gebracht wurden. Der eine rührte sich überhaupt nicht, der andere dafür umso mehr. Das schwere Fluggerät stand Jerry im Weg, sodass sie sich keine Gewissheit über den dunkelhäutigen Mann verschaffen konnte, den sie nur für einen winzigen Augenblick im Halbdunkel bemerkt hatte. Eine Anzahl Kämpfer stieg in den Helikopter, der unverzüglich abhob und Jonestown verließ.
    Jerry erwachte erst wieder aus ihrer Starre, als sich ihr zwei der Killer näherten. Papa! Ihre Lippen formten den Hilferuf zwar, ließen jedoch keinen Laut passieren. Mehr noch als das Gebot ihrer Mutter schnürte ihr Angst die Kehle zu. Jetzt holen sie dich, dachte sie. Aber das Interesse der Männer galt nur dem Toten, den die Armbrust niedergestreckt hatte. Sie luden ihn auf eine Bahre, trugen ihn zu den Häusern zurück und kippten ihn dort einfach in den Dreck.
    Vorsichtiger als jemals zuvor schlich Jerry in den Dschungel zurück.
     
     
    Einige Zeit nach Sonnenaufgang, die Hubschrauber waren längst abgeflogen, hörte Jerry Stimmen. Sie wagte nicht, ihr Erdloch zu verlassen. Keinen Mucks! Es waren zwei Männer, die da miteinander sprachen. Papa? Nein, ihn hätte sie sofort erkannt. Auch Odell Rhodes’ tiefes, leicht kratzendes Organ gehörte keinem der beiden. Vielleicht waren es die Anwälte des Reverend? Einer der Männer klingt ein wenig wie dieser Alan Compte, dachte Jerry. Aber sie war sich nicht sicher. Die Stimmen entfernten sich wieder und gingen schließlich in den Geräuschen des Regenwaldes unter.
    Den ganzen Sonntag über war Jerry zu verängstigt, um sich aus ihrem Erdloch herauszuwagen. Sie starrte nur aus leeren Augen vor sich hin und konzentrierte sich ganz darauf, keine Geräusche zu machen. Der tropische Sturm war weitergezogen, und der Dschungel dampfte. Dann ging die Sonne unter, und es wurde Nacht.
    Als ein neuer Morgen über den grünen Wipfeln dämmerte und Jerry aus unruhigem Schlaf erwachte, verspürte sie einen unbändigen Hunger. Die Hubschrauber waren nicht zurückgekehrt, aber auch sonst schien sich niemand für Jonestown zu interessieren. Langsam kroch das Mädchen aus dem Versteck.
    Vielleicht hatte in der Siedlung jemand überlebt. Womöglich sogar ihr Vater. Sie musste nachsehen. Und wenn

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