Der silberne Sinn
redete er auch seinem zweiten Sohn Nils und dessen Ehefrau Molly ins Gewissen. Sie seien ohnehin kinderlos, was spräche dagegen, die Kleine zu adoptieren? Das Paar konnte keine stichhaltigen Einwände vorbringen. So wuchs Jerry im texanischen El Paso bei Onkel und Tante auf, die sie bald Papa und Mama nannte. Später zog die Familie ins kalifornische Pacific Grove.
Inzwischen haderte Jerry aber nur noch selten mit ihrem Schicksal, sie hatte sich damit arrangiert, sah sich als Opfer eines Dominoeffekts: Vor siebenundzwanzig Jahren war im Dschungel von Guyana der erste schwarze Stein umgekippt und hatte damit eine Folge von Unglücken ausgelöst, die sie mehr als einmal zu Fall bringen sollten. Doch mit der Starrköpfigkeit eines Stehaufmännchens war sie immer wieder auf die Beine gekommen. Vielleicht verschwendete sie deshalb keinen Gedanken an den nächsten Dominostein ihres Lebens, der in diesem Moment bereits zu fallen begonnen hatte.
Yeremi ließ den Blick durch die gebogenen Sitzreihen des Auditoriums schweifen und musterte die Gesichter der Studenten. In vielen Augen leuchtete ein Feuer, das Professor McFarell entfacht hatte. Sie entsann sich gut jener Begeisterungsfähigkeit, die bei ihr mit ungefähr dreizehn Jahren eingesetzt hatte. Damals glaubte sie tatsächlich, man brauche die großen Sinnfragen nur zu stellen, um befriedigende Antworten zu erhalten. Also hatte sie gefragt: Warum haben sich Mama und Papa von diesem Reverend Jim Jones wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen? Molly und Nils konnten oder wollten ihr dazu keine zufrieden stellenden Erklärungen geben.
Die unbegreifliche Verführbarkeit ihrer leiblichen Eltern hatte Hass in Yeremi geweckt, Gefühle, die sie noch mehr verwirrten. Ihre Schlafgewohnheiten gerieten völlig aus dem Takt. Nachts dröhnte sie sich Rockmusik in den Kopf, um die dort spukenden Gespenster zu vertreiben, tagsüber schlief sie in der Schule ein. Deshalb nahm sie Weckamine, putschte sich am Morgen hoch und schluckte am Abend Barbiturate, um endlich Schlaf zu finden. Über Monate hinweg nahm ihr Zustand immer ernstere Formen an. Die Ärzte tippten auf Dysthymie, eine »chronische Form der milden bis mäßigen Depression«.
Yeremi empfand die Diagnose als blanken Zynismus. Wie konnte dieser Schmerz »mild« sein? Sie wurde reizbar, aufsässig, lief von zu Hause weg, wurde von der Polizei wieder eingefangen. Dafür verachtete sie ihre Pflegeeltern. Und sie hasste auch sich selbst, war übermäßig selbstkritisch, dachte an Selbstmord. Eine Zeit lang bestrafte sie sich durch Essensverzicht, magerte bedrohlich ab. Eine Therapeutin deutete Yeremis Stimmungen als »klare Anzeichen einer unbewussten Selbstanklage. Du musst dich von dem Gedanken lösen, Unglück heraufzubeschwören, sobald du jemandem erlaubst, dich zu lieben«. Lächerlich! Yeremi hatte davon nichts wissen wollen. Sie war ein fünfjähriges Mädchen gewesen, als das Verhängnis seinen Lauf nahm, und keine Unglücksbotin.
Dem Mangel an Erkenntnis folgte Enttäuschung. Die weiterhin offenen Sinnfragen drohten in böse Omen umzuschlagen. Es folgte eine Phase der Desillusionierung, in der Yeremi eine tiefe Abneigung gegen jeden entwickelte, dem sie, ob nun berechtigt oder nicht, die Manipulation menschlicher Gefühle unterstellen konnte, insbesondere ihrer eigenen. Dieses Feindbild hatte sie durchaus großzügig angelegt. Es schloss neben charismatischen Religionsführern vom Schlage eines Jim Jones auch Politiker, Militärs, Wissenschaftler und Wirtschaftsmagnaten ein. Wer sich Einfluss verschaffte, verdiente ihr Misstrauen – auf diese Maxime gestützt und dank ihres eisernen Willens, hatte sie sich letztlich selbst aus dem Sumpf ihrer verletzten Gefühle befreit. Niemand durfte an dieser Überzeugung rütteln, womöglich weil sie ahnte, wie schnell ihr Leben dadurch aus den Fugen geraten könnte.
So hatte sich das verstörte Kind, das eben noch über die Leinwand des Auditoriums gehuscht war, zu einer geachteten Anthropologin gemausert, die schließlich doch noch für Schlagzeilen sorgte: als jüngste Assistenzprofessorin der Universität von Kalifornien in Berkeley. Professor Doktor Yeremi R. Bellman wurde in der akademischen Welt hoch geschätzt. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft dagegen blieb sie zumeist unbemerkt, weil sie den Kontakt mit anderen Menschen scheute. Schon eine zufällige Berührung, etwa die eines Studenten beim gleichzeitigen Griff nach dem Salzstreuer in der Mensa, ließ sie
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