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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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manipuliert, manchmal zum Guten, oft – wie das Jonestown-Massaker beweist – auch zu ihrem Schaden. In alten Legenden wird vom Eingriff der Götter in die Geschicke der Sterblichen gesprochen, nicht zuletzt dadurch, dass sie deren Gefühle und damit menschliches Handeln beeinflussten. Sogar die Bibel widmet der Empathie breiten Raum: Wenn König Saul von einem ›schlechten Geist‹ heimgesucht wurde, heißt es im Ersten Buch Samuel, dann verschaffte David dem in Aufruhr geratenen Gemüt durch Harfenspiel Erleichterung. Von Christus berichtet der Evangelist Matthäus sogar: ›Und Jesus, der ihre Gedanken erkannte, sprach: »Warum denkt ihr Böses in eurem Herzen? «‹ Wohnt jedem Menschen ein Funke jener Gabe inne, die dem Herrn die Fähigkeit verlieh, das ›Böse im Herzen‹ seiner Gegner zu ›erkennen‹?«
    Der Professor ließ seine rhetorische Frage in wohl bemessener Dauer auf die Studentenhirne einwirken, währenddessen seine Gletschereisaugen durch eine altmodische Hornbrille in das Rund der Zuhörer emporblickten. Erst jetzt schien er Yeremi zu bemerken. Sein Mundwinkel verzog sich, die Andeutung eines Lächelns. Dann fügte er, an seine gebannt lauschende Jüngerschaft gewandt, hinzu: »Falls auch nur die geringste Aussicht bestünde, dieses göttliche Geheimnis zu lüften, sollten wir es dann nicht wenigstens versuchen? Könnte uns irgendetwas davon abhalten, selbst wenn es, eingraviert auf einer Steintafel, irgendwo in den frostigen Höhen des Himalaja versteckt läge?«
    Viele Studenten schüttelten den Kopf, andere murmelten Worte wie »Nein!« oder »Niemals!«. Die Miene des Professors verzog sich unvermittelt zu einer Furchenlandschaft des Zweifels. Mit schief gelegtem Kopf und abwiegelnder Geste fügte er hinzu: »Oder sollten wir dieses gefährliche Wissen besser als Teufelswerk verdammen? Wir haben ja anhand mehrerer Beispiele gesehen, zu welchen Tragödien die Manipulation menschlicher Emotionen führen kann.«
    Yeremi bemerkte, wie in der jungen Zuhörerschaft eine Anzahl Köpfe zu nicken begannen, als säßen sie auf dem Rumpf von Buddhastatuen. Unterdessen löste sich die Spannung in McFarells Gesicht. Er lächelte und beschloss seinen Vortrag auf altbewährte Art.
    »Die Antwort auf diese Fragen zu finden ist nicht Gegenstand unserer heutigen Vorlesung, aber ich denke, meine Damen, meine Herren, Sie werden nun ausreichend Stoff zum Diskutieren haben. Vielen Dank für Ihre Geduld und einen schönen Tag.«
    Yeremi erlebte nicht zum ersten Mal diese erstaunlich lange Stille, die nach der fast schon rituellen Schlussformel des Professors eintrat. Aber schließlich wich der Bann doch vom Auditorium – auch das hatte Tradition. Die Zuhörer klopften mit Kugelschreibern und anderen Requisiten anerkennend auf die Schreibpulte; Stuhllehnen klappten hörbar nach oben, und Sportschuhe aller gängigen Marken transportierten ihre mehr oder weniger gesprächigen Träger aus dem Saal.
    »Wie war ich?« Professor McFarell hatte wie ein Olympiasieger die Arme hochgerissen und strahlte über das ganze Gesicht.
    Die letzte noch sitzende Zuhörerin klatschte betont langsam. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Die kleinen und großen Selbstinszenierungen des Dekans waren Yeremi bestens vertraut. Stanley McFarell pflegte das Klischee des spleenigen Professors, der zu gelegentlichen Ausfällen neigte: Er liebte es, die mental ungefestigte Wissenschaftsgemeinde durch bisweilen abenteuerliche Theorien aus der Fassung zu bringen. Manche behaupteten, er täte das nur, um seiner Fakultät mehr Publicity und Fördermittel zu verschaffen. Aber Yeremi kannte McFarells Scheu vor Kameras und hielt seine provozierenden Thesen eher für eine Art Spiel, mit dem er die geistige Beweglichkeit seiner Mitmenschen, vor allem seiner Kritiker, auszuloten suchte.
    »Sind Sie böse mit mir, Jerry?« Der Professor lehrte nicht nur zum Thema Empathie, er besaß sie auch.
    Ihr war das nur recht. Sein versöhnlicher Ton dämpfte ihren Zorn nur unwesentlich. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz am Gang und stieg ohne große Eile die Treppe zu ihm hinab.
    »Wie konnten Sie mir das antun, Stan? Ich werde wieder nächtelang Albträume haben.« Sie erreichte den Professor, der neben dem Katheder stand. »Ich bin enttäuscht, und Sie wissen genau, was der Grund dafür ist.«
    »Der Film hat Sie innerlich aufgewühlt. Das kann ich gut verstehen, Jerry.«
    »Wenn Sie ihn schon unbedingt vorführen mussten, warum haben Sie dann nicht wenigstens

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