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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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alle tot waren? Dann würde sie die Straße hinauf nach Port Kaituma laufen. Man konnte sich nicht verirren.
    Schnell erreichte sie das freie Gelände, auf dem sich noch vor zwei Nächten so schreckliche Szenen abgespielt hatten. Sie folgte einem Trampelpfad in die Siedlung. Noch ehe sie die ersten Häuser erreichte, schlug ihr ein Übelkeit erregender Geruch entgegen. Kurz darauf entdeckte sie die ersten Leichen. Einige Tote waren seltsam aufgebläht. Nicht wenige hatten im Todeskampf ihre Blase oder den Darm entleert. Angestrengt blickte Jerry in eine andere Richtung, aber aus den Augenwinkeln sah sie immer noch die leblosen Leiber, und mit einem Mal war sie völlig von ihnen umgeben.
    Und dann fand sie ihre Mutter.
    Der Körper lag seltsam verdreht im Schmutz. Als hätte ihn jemand eilig dorthin geschafft und achtlos fallen gelassen. Auf dem Rücken scharten sich Fliegen um eine großes, blutverkrustetes Loch.
    Was von der Welt des Mädchens noch übrig geblieben war, das stürzte in diesem Augenblick wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Tränen schossen Jerry in die Augen. Ihrem wunden, geschwollenen Hals entwichen krächzende Klagelaute. Tränenblind lief sie davon, tappte zwischen Leichen hindurch, stolperte über leblose Beine und Arme, bis sie über sich erneut das Geräusch eines Hubschraubers vernahm.

 
     
     
     
    ZWEITER TEIL
     
     
     
    DIE SUCHE
    NACH
    DEN WEISSEN GÖTTERN

 
    DER AUFTRAG
     
     
     
    27 Jahre später
    Berkeley (Kalifornien, USA)
    22. September 2005
    11.48 Uhr
     
    Erst aus der Vogelperspektive war das schreckliche Ausmaß der Tragödie zu erahnen. Dutzende, womöglich sogar mehrere hundert Leichen bedeckten das Areal. Der Helikopter flog über ein weit ausladendes Satteldach aus hellem Blech hinweg. Es gehörte dem größten Gebäude von Jonestown, offenbar eine Art Versammlungshalle. Ringsum bot sich den Helfern ein Anblick wie nach einem Krieg. Überall Tote. Doch etwas an diesem grauenvollen Fund machte die hart gesottenen Navy-Soldaten stutzig. Es waren nirgends Zerstörungen zu sehen. Niemand hatte hier Handgranaten geworfen oder Maschinengewehrsalven abgefeuert. Es sah so aus, als hätten sich die Leute alle selbst umgebracht.
    Plötzlich erschien ein Zeigefinger und deutete an den Rand des Blickfeldes. Dort bewegte sich etwas. Der Hubschrauber ging tiefer. Und dann erkannte man es, nur einen kleinen Augenblick lang. Ein Kind, allem Anschein nach ein kleines Mädchen in einer schmutzigen gelben Regenjacke, irrte verstört zwischen den Leichen umher, als suche es jemanden.
     
     
    Ein grelles Flimmern huschte über die Leinwand, dann wurde es schlagartig dunkel. Kurz darauf ging im Hörsaal das Licht an.
    Yeremi blinzelte benommen. Sie war blass wie eine Wand und zitterte, wusste sie doch nur zu genau, was dieses Kind dort unten gesucht hatte.
    Denn sie war das fünfjährige Mädchen in dem Film.
    Viele Erinnerungen an die grauenvollen Ereignisse von damals besaß sie nicht mehr, aber den Geruch der Toten von Jonestown würde sie nie vergessen – diese nach Kot, Urin, Blut und Verwesung stinkende Wolke, die wie ein beflecktes Leichentuch über allem gelegen hatte. Und der Anblick ihrer toten Mutter schwärte noch immer wie ein Abszess in ihrem Gedächtnis. Hätte Yeremi gewusst, was sie im Hörsaal erwartete, wäre sie niemals hingegangen.
    Durch den Film war der Schlick wieder aufgewühlt worden, der düstere Bodensatz ihrer Seele, all jene Erlebnisse, die sie am liebsten für immer aus ihrem Bewusstsein verbannt hätte. Der seinerzeit eilig erstellte Regierungsbericht über das so genannte Jonestown-Massaker vom 18. November 1978 wies die Zahl von neunhundertdreizehn Toten aus. Ungefähr einhundertsiebenundsechzig Personen hätten überlebt, davon galten etwa zwanzig offiziell als »nicht identifiziert«.
    Yeremi Rose Bellman war eine von ihnen.
    Während sich die Weltöffentlichkeit im Herbst 1978 an den schaurigen Bildern und Berichten der Medien von aufgedunsenen Leichen und lebensmüden Angehörigen der religiösen Volkstempel-Bewegung geweidet hatte, war Yeremis Großvater im Verborgenen aktiv geworden. Carl Bellman besaß schon damals Beziehungen bis in höchste politische Kreise und zudem ein millionenschweres Vermögen. Beides setzte er großzügig ein – zuletzt sogar in einem Rechtsstreit mit dem CIA –, um seine Enkelin aus dem Medienrummel herauszuhalten. Er wollte der kleinen Jerry wieder ein behütetes und geordnetes Leben verschaffen. Zu diesem Zweck

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