Der silberne Sinn
es jenseits unseres Vorstellungshorizonts liegt. Die großen Entdeckungen der Wissenschaftsgeschichte wurden gerade von jenen Unverzagten gemacht, die einen Schritt weiter als die anderen gegangen sind.«
»Geschickte Argumentation, Stan, aber ich werde trotzdem nicht nach Guyana gehen. Die Jagd auf Phantome und Weiße Götter fällt eindeutig nicht in mein Fachgebiet.«
»Und ob sie das tut, Jerry! Ein Baum beginnt an den Wurzeln zu wachsen, nicht erst da, wo die Blätter sprießen. Als Expertin für die frühen Kulturen Meso- und Südamerikas können Sie nicht einfach deren Ursprünge ignorieren. Bei der Inbesitznahme Südamerikas durch die spanische Krone wollen vereinzelte Konquistadoren hoch gewachsene, hellhäutige, bärtige ›Wilde‹ gesichtet haben, die der Überlieferung nach blond gewesen sind. Es gibt Beschreibungen, die an Kaukasier, oder andere Berichte, die eher an Basken, Bretonen oder Westiren denken lassen. Womöglich handelte es sich um Nachfahren jener bärtigen Götter, die von den Azteken, Maya, Inka und anderen Urvölkern des Kontinents verehrt wurden. Wollen Sie mir allen Ernstes einreden, die Herkunft dieser Kulturbringer interessiere Sie nicht?«
»Ich kenne die Theorien. Das Epos von Quetzalcoatl kann ich Ihnen im Schlaf dahersagen:
Seht, sein Bart ist lang gewachsen, ganz besonders lang sein Bart ist, gelb wie Stroh sein langer Bart ist!
Und so weiter und so fort. Mal sind es die Phönizier, dann wieder die Kelten oder Ägypter, die als Bindeglied zwischen Alter und Neuer Welt herhalten müssen. Mir sind auch die Fachbeiträge über die Petroglyphen auf den Kanarischen Inseln und ihre verblüffende Ähnlichkeit zu Felsbildern in Ohio, Arizona und Venezuela bekannt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sträube mich nicht gegen den Gedanken an eine ältere weiße Rasse, die vor oder mit den Indios in Mexiko, Peru, Kolumbien oder Paraguay gelebt haben soll, aber dieses Geschwafel von den Weißen Göttern besitzt für mich den befremdlichen Beigeschmack einer Mystifizierung, die unmöglich der Wahrheitsfindung dienen kann. Daran will und werde ich mich nicht beteiligen. «
Für einen Moment wirkte McFarell durch Yeremis brüske Ablehnung eingeschüchtert. Verdrießlich suchte er auf dem Grund seines Kaffeebechers nach Erleuchtung. Unvermittelt hob er wieder den Blick, das Gletschereis in seinen Augen taute auf, und er lächelte wie ein lieber Märchenonkel.
»Sie sind ein harter Brocken, Jerry. Seien Sie versichert, mir geht es nicht in erster Linie um den Nachweis eines transatlantischen Schiffsverkehrs vor Christoph Kolumbus. Jedes halbwegs gescheite Kind kennt heute Leif Eriksson und die Geschichte von der Landung der Wikinger in der Neuen Welt. Mental Health würde keine größeren Summen in ein Unternehmen investieren, das lediglich…«
»Moment mal!«, fuhr Yeremi dazwischen. »Von einem Sponsor haben Sie bisher nichts erwähnt. Wer ist Mental Health?«
»Eine hundertprozentige Tochter von Stheno Industries. Mental Health gehört zwar nicht zu den Global Playern, arbeitet aber sehr erfolgreich im Bereich der Psychohygiene. Das Unternehmen betreibt Forschungen in unterschiedlichen Bereichen: Biofeedback, Schlaf, neuronale Prothesen und, und, und. Der Mutterkonzern hält Mehrheitsbeteiligungen an diversen pharmazeutischen Unternehmen, die Psychopharmaka herstellen.«
»Und wo liegt da die Verbindung zur Götterjagd?«
McFarell lächelte. »Im Vorstandsvorsitzenden des Konzerns. Vielleicht haben Sie den Namen Jefferson H. Flatstone schon einmal gehört. Er ist ein leidenschaftlicher Amateurforscher, ein ziemlich erfolgreicher sogar. Kürzlich hat er ein Dokument aufgespürt, das die Atlantiküberquerung des deutschen Kapitäns Pining sowie des Portugiesen Cortereal im Jahr 1473 – also neunzehn Jahre vor Kolumbus! – zweifelsfrei belegt; die beiden Entdecker sind auf Neufundland und möglicherweise sogar an der nordamerikanischen Küste gelandet. Jefferson Flatstone steckt Millionen von Dollars in Forschungsprojekte und Stiftungen, ›um das Wissen über präkolumbische Kontakte zwischen der Neuen und der Alten Welt zu mehren‹, wie es in einer Firmenbroschüre von Mental Health vollblumig heißt. Die so genannten Weißen Götter haben es ihm besonders angetan.«
Yeremi sprang empört von der Sessellehne auf. »Das heißt, Sie wollen mich an einen Multimillionär vermieten, damit er seine verrückten Hypothesen beweisen kann?«
»Werden Sie nicht unsachlich, Jerry, und
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