Der silberne Sinn
schwarz schimmernden Fell und schienen im nächsten Moment regelrecht zu explodieren. Der weiße Hüne, der ihr den Weg versperrte, riss sich erst jetzt vom Anblick der donnernden Lanze in den Händen des Fremden los. Das Jaguargebiss schnappte zu.
Der Angegriffene erwies sich jedoch trotz seiner Größe als ungemein geschmeidig. Er hatte sich wie ein Schilfrohr nach hinten gebogen, und obwohl sein Hals nur um ein Haar den Zähnen der Katze entging, rammte er ihr noch seine Klinge in die Flanke. Dann aber fegte der Jaguar ihn förmlich vom Ast, und beide stürzten, ineinander verknäuelt, in den Fluss.
Entsetzt verfolgten die Menschen in den Kanus den unerbittlichen Kampf – schwarzes Fell, weiße Haut, eine immer wieder im Sonnenlicht aufblitzende Klinge, Blut und das aufgewühlte Wasser: einen Kampf, dessen Ausgang nicht abzusehen war.
»Tut doch was!«, schrie Yeremi.
»Wenn ich schieße, trifft’s womöglich den Falschen«, jammerte Norryl.
Plötzlich hörte sie ein sirrendes Geräusch, sah für Sekundenbruchteile einen hellen Strich auf die beiden Kämpfer zurasen; dann traf Wachanas Pfeil den Nacken der Katze.
Der Treffer war nicht sofort tödlich, aber doch so überraschend und schmerzhaft, dass das Tier zur Abwehr des unsichtbaren Angreifers herumfuhr. Diesen Moment nutzte der Hüne für den entscheidenden Stoß. Die Klinge bohrte sich tief ins Herz des Jaguars, der einen letzten, schrecklichen Todesschrei von sich gab, bevor er röchelnd erschlaffte.
Aber auch der Waldläufer wankte plötzlich und fiel mit dem Gesicht nach unten ins Wasser, das sich sogleich rot färbte.
»Zieht ihn raus, schnell!«, rief eine Stimme, noch ehe Yeremi es tun konnte. Es war Al Leary, der diesen Befehl gegeben hatte.
Kayanama Ayaw und J. J. Greenleaf sprangen in das brusttiefe Wasser und arbeiteten sich mit rudernden Armbewegungen zu dem treibenden Körper vor. Der Indianer bekam den Fuß des reglosen Hünen zu packen. Gemeinsam drehten die beiden den Besinnungslosen auf den Rücken und trugen ihn zum Kanu.
Yeremi fuhr zusammen, als erneut ein Schuss durch die Stille peitschte. Leary hatte, nur um sicherzugehen, auf den Kopf der Großkatze gezielt, bevor Aaron Maruwanaru die Jaguarleiche mit dem Paddel einfing.
»Da hinten können wir anlegen«, sagte Wachana und deutete den Fluss hinauf.
Yeremi musste die Augen mit der Hand beschirmen, um die Stelle zu sehen. Sie nickte. »Bringen wir den Mann dorthin, damit sich Percey um ihn kümmern kann.«
Nach wenigen Minuten hatten die Kanus eine kleine Sandbucht erreicht. Zu viert schafften sie den reglosen Waldläufer an Land. Eine tiefe Wunde, die bis auf den Knochen ging, klaffte an seiner linken Schulter, eine zweite in der Taille. Die Krallen der Katze hatten ihm zahlreiche weitere Verletzungen zugefügt. Der Blutfluss ließ nichts Gutes ahnen. Lytton suchte nach Lebenszeichen.
»Was ist?«, fragte Yeremi ungeduldig. »Ist er…?«
»Er lebt, aber der Jaguar hat ihn schlimm zugerichtet.«
»Wird er durchkommen?«
»Kann ich noch nicht sagen.«
»Ist euch aufgefallen, wie er aussieht?«, fragte Leary aufgeregt.
»Wir sind ja nicht blind«, zischte Yeremi.
»Leute, wisst ihr, was ich glaube?«
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Al. Der Mann kämpft um sein Leben.«
»Das wir unbedingt retten müssen. Schaut ihn euch doch nur an. Er sieht aus wie der aztekische Quetzalcoatl: weiß, blond und bärtig.«
Yeremi verdrehte die Augen. »Abgesehen vom Bart trifft das auf mich auch zu.«
Leary schüttelte den Kopf. »Du kannst meiner Intuition vertrauen. Der Mann da ist einer von den Weißen Göttern.«
DER CHOR DER TRÄUME
Östliche Wassarai Mountains (Guyana)
21. Oktober 2005
16.42 Uhr
Yeremi betrachtete argwöhnisch die Nadeln im Körper des Verletzten. Eben erst hatte Lytton ihm ein Schmerzmittel injiziert, und nun setzte er schon wieder eine Spritze. Im Unterarm des Bewusstlosen befand sich eine Kanüle, die mit einem durchsichtigen Plastikschlauch verbunden war, durch den eine klare Flüssigkeit lief. Der Infusionsbeutel hing an einem im Boden steckenden Ast. Nur ein Volumenexpander, hatte Lytton erklärt, eine simple Kochsalzlösung, die dem vom schnellen Blutverlust verursachten Abfall des Blutdrucks und damit einhergehenden Schock entgegenwirken solle.
»Ist es wirklich nötig, ihm sämtliche Spritzen zu geben, die Sie in Ihrer Arzttasche haben, Percey?«
Lytton lächelte auf typisch britische Art. Seine sparsame Mimik wurde
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