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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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von einem dezenten dunklen Schnurrbart unterstrichen. »Seien Sie unbesorgt, meine Liebe. Ich spritze nur ein Antibiotikum, um Infektionen vorzubeugen. Der schwarze Chirurg, dem die Indianer da gerade das Fell abziehen, dürfte seine Skalpelle kaum sterilisiert haben, bevor er den Eingriff an unserem Patienten hier vorgenommen hat.«
    Yeremi blickte zum Ufer, wo Wachana und seine Stammesbrüder den Jaguar abhäuteten. Für seinen Schädel hatten sie schon einen Platz auf einem nahen Felsen am Ufer ausgesucht – zur Abschreckung böser Geister. Leary stand mit verzücktem Gesicht in der Nähe der Wai-Wais und gab über das Satellitentelefon einen aktuellen Lagebericht.
    Angewidert wandte Yeremi sich wieder dem Waldläufer zu. Er lag auf einer der dünnen Isomatten, die den Expeditionsteilnehmern als Unterlage für die Schlafsäcke dienten. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich in ruhigem Rhythmus und wiegte dabei – nur Zufall? – ein Katzentier mit riesigen Fangzähnen. Das vier oder fünf Millimeter dicke Schmuckstück bestand aus gehämmertem Gold. Es hing an dem Halsband aus verschiedenfarbigen Korallen und Perlen, das Yeremi schon zuvor aufgefallen war.
    J. J. Greenleaf und der Astroarchäologe Gil Burne vollendeten gerade eine in Gemeinschaftsarbeit entstandene Dachkonstruktion aus Plastik, Schnüren und passend zurechtgestutzten Ästen, von der nicht sicher war, ob sie den Verletzten tatsächlich vor Sonne und Regen schützte oder sein Leben nur noch mehr gefährdete. Zufrieden gesellten sich die beiden Hobbyarchitekten nach einer letzten Stabilitätskontrolle wieder zu den anderen Kollegen, die den Bewusstlosen umstanden und ihn wie ein Relikt aus grauer Vorzeit anstarrten.
    Sein Körper sah aus wie eine Schaufläche für Verbandsmaterialien. Wundersamerweise klebte nicht das kleinste Pflaster in dem archaisch anmutenden Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der dicken, kleinen Nase. Es war breit und kurz, hinter dem Bart ließ sich ein kantiges Kinn vermuten. Über den tief liegenden Augen wölbten sich ausgeprägte Brauen. Das Alter des Verletzten zu schätzen war schwierig. Vierzig, höchstens fünfundvierzig, dachte Yeremi.
    Während sie darüber nachgrübelte, welches Leben dieser Mann wohl führte, beobachtete sie argwöhnisch den routiniert mit seinen Nadeln hantierenden Lytton. »Er hat so viel Blut verloren, Percey, und jetzt zapfen Sie ihm noch mehr ab? Ist das wirklich nötig?«
    »Das war meine Anweisung«, sagte Leary, bevor der Arzt antworten konnte.
    Yeremis Miene verfinsterte sich. »Der stellvertretende Kommandeur hat sein Telefonat mit der Generalität beendet und besichtigt nun das Feldlazarett. Alles hübsch der Reihe nach, nicht wahr?« Ihre Stimme wechselte von Verachtung zum Angriff. »Sag bloß, du experimentierst schon an diesem Mann herum, bevor wir überhaupt wissen, wer er ist.«
    »Für was hältst du ihn denn, Jerry?«
    »Was weiß ich! Vielleicht für einen Aussteiger, der sein Karma in der freien Natur auffrischen will, oder für einen Kriminellen, der sich vor der Polizei in den Dschungel geflüchtet hat.«
    »So antwortet jeder, der nur das sehen will, was seinen Erwartungen entspricht.«
    »Hört, hört! Der große Psychologe hat gesprochen. Ich vermute, deinen Augen eröffnen sich ganz andere Sphären.«
    »Spotte nur! Ist dir der schwere Anhänger aufgefallen, den er um seinen Hals trägt?«
    »Was für ein Anhänger?«
    »Natürlich hast du ihn gesehen. Sieht ziemlich alt aus, wenn du mich fragst. Sehr alt sogar! Ich wette, du als Expertin kannst mir sogar seine Herkunft nennen.«
    Yeremi knirschte mit den Zähnen. »Dem Augenschein nach ist das eine Arbeit der Moche.«
    »Die Moche-Krieger!«, freute sich Leary und blickte mit geschwellter Brust in die Runde. »Nennt man sie wegen ihrer meisterhaften Kunstwerke nicht auch die ›Griechen der Neuen Welt‹? Sie lebten im heutigen Peru, nicht wahr? Ihre Kenntnisse in der Metallverarbeitung versetzten später selbst die Inka in Erstaunen, die auch gerne ihre Straßen benutzten. Wie du siehst, habe auch ich mich ein wenig auf unsere Expedition vorbereitet. Wann hatten die Moche doch gleich ihre Blüte…?«
    »Zwischen 100 und 800 unserer Zeitrechnung. Findest du es nicht reichlich kühn, von einem Schmuckstück, dessen Echtheit nicht einmal bewiesen ist, auf die Weißen Götter zu schließen? Darauf willst du doch hinaus, oder etwa nicht? Vielleicht ist dir bei deinen Recherchen eine Kleinigkeit entgangen: Die

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