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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sich nicht mehr aus der Falle lösen. Im Nu war sie schweißgebadet. Ihr Herz raste, pumpte kochendes Blut und das Gefühl der Panik bis in die äußersten Kapillaren ihres Körpers. Jenseits des Moskitonetzes flammten Lichter auf. Yeremi zog mit aller Kraft, krallte die Fingernägel ihrer freien Hand in den Arm des Riesen, doch er ließ sie nicht los. Die Augen des Waldläufers waren noch immer geschlossen, aber ganz langsam verzog sich sein Mund unter dem blonden Bart.
    Er lächelte!
    Yeremi entspannte sich. Dieser Kerl machte sich doch tatsächlich einen Spaß daraus, seine Krankenschwester zu erschrecken! Nein, er tat ihr nicht weh, allenfalls sorgte sie selbst durch ihr Zerren für Schmerzen. Aber er hielt sie gefangen wie ein wehrloses Vögelchen, das man in hohlen Händen hält. Yeremis Angst war verflogen und hatte einer verwirrenden Empfindung Platz gemacht: Wieso gab ihr ausgerechnet diese fremde Hand so etwas wie Geborgenheit“!
    Mit aufgerissenen Augen starrte Yeremi den lächelnden Fremden an. Was sie da fühlte, konnte nicht echt sein. Schlagartig wurde ihr die Konsequenz dieses Gedankens bewusst, und sie geriet erneut in Panik. Abermals schrie sie auf.
    Inzwischen war es ihr gelungen, das Expeditionsteam vollständig aufzuwecken. Die ersten Helfer stürzten ins Lazarett, allen voran ein bleicher Al Leary.
    »Was brüllst du so?«
    »Ausgerechnet du musst mich das fragen!«
    Irma Block riss eine Ecke des Moskitonetzes hoch, hinter ihr erschienen verängstigte Indianergesichter. »Ist der Kerl zudringlich geworden?«
    »Ja. – Nein! Er hält mich einfach nur fest.«
    Weitere besorgte Kollegen drängten unter das Dach. Endlich erschien auch Lytton mit einem ziemlich verstörten Gesichtsausdruck, der aber sogleich verschwand, als er die Lage überblickte. Der Arzt hob verwundert eine Augenbraue.
    »Was soll das werden? Eine Verlobung?«
    »Befreien Sie mich endlich von diesem Kerl! Notfalls greifen Sie zum Skalpell und schneiden ihm die Hand ab.«
    Der Arzt, der auf Kopfhöhe eine Campinglampe hielt, schob sich vor, um sich neben den Patienten zu knien, der immer noch mit geschlossenen Augen dalag, als schliefe er. Mit einem Mal lächelte Lytton.
    »Der gute Junge fürchtet sich.«
    »Und dabei lächelt er?«
    Der Mediziner überhörte den Einwand. Stattdessen legte er seine Hand auf die Brust des Patienten, an einer unbandagierten Stelle, und tat – nichts.
    »Was soll das werden?«, ächzte Yeremi, während sie sich im Griff ihres Schutzbefohlenen wand.
    »Empathie. Ich lasse ihn spüren, dass ich bei ihm bin, Verständnis für seine verwirrende Lage habe. Er fühlt die Wärme meiner Hand, die offen ist, um zu empfangen und zu geben.«
    Yeremi hielt nicht viel von dieser Therapie, und sie wollte gerade ihre Bedenken mitteilen, als sich der Griff des Fremden unvermittelt löste. Schnell rückte sie von ihm ab, allerdings nicht sehr weit. Der Waldläufer drehte ihr das Gesicht zu und öffnete die Augen. Sie waren erstaunlich klar und so blau wie der Mittagshimmel über dem Regenwald. Nie hatte Yeremi im Blick eines Menschen solche Weite gesehen.
    Lytton beugte sich über den Patienten. »Können Sie mich verstehen?«
    Der Verletzte sah den Arzt mit einem seltsamen Ausdruck an, in dem Yeremi nur wenig Furcht, doch sehr viel Traurigkeit zu erkennen glaubte.
    »Gestatten Sie mir, mich vorzustellen«, sagte der Arzt in vollendeter britischer Höflichkeit – man hätte allerdings glauben können, er spräche mit einem Schwerhörigen. Lächelnd legte er sich die Hand auf die Brust. »Ich bin Doktor Percey Montague Lytton.« Dann zeigte er auf den Verwundeten und fragte: »Darf ich auch Ihren Namen erfahren?«
    Der Waldläufer zögerte. Er schien durch den Arzt hindurchzusehen, während er sich Yeremi zuwandte und leise, aber mit tiefer, voller Stimme antwortete: »Saraf Argyr.«
    Unter der Plastikplane entstand Unruhe. »Er kann Sie verstehen«, sagte Sose, als handele es sich um eine offizielle Verlautbarung der guyanischen Regierung.
    »Ein Weißer Gott, der Englisch spricht?«, spöttelte Yeremi. Sie wollte Leary gerade eine Grimasse schneiden, als der Patient unvermittelt zu reden anfing. Er sprach ruhig, eindringlich, und jedes seiner Worte war anscheinend wohl überlegt – aber für Yeremi völlig unverständlich.
    »Hat ihn jemand verstanden?«, fragte sie. Ihre linke Hand streichelte die rechte, als müsse sie jeden einzelnen der soeben aus Geiselhaft befreiten Finger trösten.
    Niemand konnte sich

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