Der silberne Sinn
Moche waren keine Bleichgesichter.«
»Schon mal darüber nachgedacht, woher ihr Wissen stammte?«
Yeremi deutete auf den Hünen, der reglos neben ihr lag. »Jetzt sag bitte nicht, von ihm.«
»Wohl kaum von unserem Jaguartöter persönlich, aber von seinen Vorfahren.«
Yeremi lachte spöttisch.
»Hat euch beiden schon mal jemand gesagt, dass ihr ein Riesenproblem miteinander habt?«, mischte sich Abby ein.
»Sie hat eines, nicht ich«, widersprach Leary und blickte zornig auf Yeremi herab. »Unser Fund müsste eigentlich in Ihr Spezialgebiet fallen, Abby. Wenn Sie seine Physiognomie mit einem Wort beschreiben müssten, was würden Sie sagen?«
»Cromagnoid.« Die Antwort der Anthropologin kam wie aus der Pistole geschossen.
Leary sah Yeremi triumphierend an. »Man sagt, der Cromagnon sei der erste neuzeitliche Mensch gewesen. Er soll die atlantische Westkultur begründet haben, die – lange vor den Hochkulturen am Nil, Euphrat, Indus und denen Mittel- und Südamerikas – riesige Megalithbauten errichtete. In der Seefahrt sollen die Cromagnon wahre Höchstleistungen vollbracht und bereits regelmäßige Handelsbeziehungen jenseits des Atlantiks unterhalten haben.«
»Zwar nicht neu, aber immer wieder interessant, Al Leary«, sagte Yeremi kühl. »Vermutlich wirst du mir gleich noch die Geschichte von Atlantis erzählen und behaupten, unser Katzenjäger sei König Atlas höchstpersönlich. Bevor du dich zu solchen Höhen aufschwingst, noch ein kleiner Hinweis: Die Gesichter der französischen Basken und Bretonen wie auch die der Westiren und Canarios sind demjenigen unseres Freundes hier verblüffend ähnlich.«
Abby tippte Yeremi auf die Schulter und räusperte sich. »Ich will dir nicht in den Rücken fallen, Schätzchen, aber die Basken und Bretonen sind direkte Nachfahren der Cromagnon, ebenso wie die Westiren und die Abkommen der Urbevölkerung auf den Kanarischen Inseln. Man hat das unter anderem an ihrer übereinstimmenden Blutgruppe festgestellt: Null mit Rhesusfaktor negativ, eine in der übrigen Welt eher seltene Kombination.«
Yeremi funkelte ihre Kollegin an. »Trotzdem sollten wir zunächst das nahe Liegende prüfen, bevor wir uns auf ein Minenfeld von Spekulationen begeben. Der Ärmste ist ja noch nicht einmal aufgewacht. Vielleicht öffnet er die Augen und bittet uns als Erstes um Rotwein und Baguette.«
Ein leises Schmatzen ließ Yeremi hochschrecken. Oder war es dieser seltsame Traum von dem schwarzen Jaguar, der…?
Sie schüttelte den Kopf, verärgert über sich selbst, weil sie eingenickt war. Vor zwei Stunden hatte sie unbedingt die erste Nachtwache am Lager des Verletzten übernehmen wollen. Sie wusste selbst nicht, warum. Der Widerspruch der anderen Expeditionsteilnehmer war ausgeblieben. Aufseiten der Indianer herrschte eine unerklärliche Scheu gegenüber dem weißen Jäger, und die Übrigen waren froh, ihrer Erschöpfung nachgeben zu können. Sogar Lytton nahm Yeremis Angebot dankbar an.
Der Zustand des Patienten sei »erstaunlich stabil«, lautete sein Bulletin. »Der Gute hat die Konstitution eines Grizzlybären. Wecken Sie mich nur, wenn es Komplikationen gibt«, sagte der Arzt noch, bevor er sich auf seine Schlafmatte zurückzog.
Yeremi machte es sich im Schneidersitz neben dem Bewusstlosen bequem und studierte nochmals sein Gesicht und seinen Körper. Eine kleine Speziallampe, deren Batterien Hunderte von Stunden durchhielten, spendete ihr das nötige Licht.
Das Gesicht des Patienten wirkte friedlich. Was sich jenseits der Moskitonetze abspielte, die J. J. bei Einbruch der Dämmerung über sein Schutzdach gespannt hatte, konnte sie nur ahnen. Irgendwo schien sich jemand unruhig im Schlaf zu wälzen, aber ansonsten hörte sie nur das übliche Nachtkonzert des Regenwaldes. Sie würde sich nie an die rußschwarze Dunkelheit im Dschungel gewöhnen, an dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das sie seit frühester Kindheit kannte. Nur zu gerne war sie in die Rolle der Nachtschwester geschlüpft, hier, an der Seite des Fremden. Welcher Feind würde es wagen, sich diesem Mann zu nähern, der selbst im Schlaf noch eine so große Autorität ausstrahlte?
Yeremi erschrak. Wo war sie nur? Sie setzte sich auf. Schlagartig wurde ihr klar, dass sie erneut am Krankenbett des Fremden eingeschlafen sein musste. Ihr rechter Arm fühlte sich taub an. Als sie ihn schütteln wollte, bemerkte sie, dass ihre rechte Hand von einer Pranke umschlossen war.
Yeremi schrie. Ihre Rechte ließ
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