Der silberne Sinn
moskitoverseuchte Dämmerung, flirrende Mittagshitze, lackschwarze Nacht. Dazu immer wieder Regenschauer, die bisweilen Sturzfluten glichen. Yeremi genoss jede Minute. Sie wollte an keinem anderen Ort der Welt sein. Hier fühlte sie sich als ein Teil der Schöpfung. Nur hier existierte überhaupt noch Natur. Hier konnte man das Leben in den Steinwüsten der Zivilisation vergessen, ja, man musste alles abwerfen, was die Sinne trübte, sonst war man verloren. Gunn’s Strip lag ungefähr siebzig Meilen und zwei Nächte hinter ihnen. Am Vormittag des zweiten Tages waren sie auf eine Flussgabelung gestoßen. Wachana hatte nach rechts gedeutet, und seitdem fuhren sie den Kamoa hinauf, der, noch schmaler als der Essequibo, dahinfloss. Die Kanus schwebten immer tiefer in das dampfende Irgendwo hinein – eine Traumreise durch einen riesigen lebenden Organismus. Selbst die berüchtigten Atorad-Indianer schienen den Frieden dieser abgeschiedenen Welt nicht stören zu wollen. Vielleicht waren sie längst vom Angesicht der Erde verschwunden, ebenso still wie der Wald, den unersättliche Gier bereits ausgerottet hatte.
Manchmal wünschte sich Yeremi beinahe eine Begegnung mit den Dschungelbewohnern, die in dem Ruf standen, unerbittlich zu sein. Doch sie kannte die Scheu der verborgenen Völker von früheren Expeditionen. Wenn sich die Atorads nicht zeigen wollten, würden sie unsichtbar bleiben. Selbst die scharfen Augen der Wai-Wais vermochten die filzigen Vegetationswände nicht zu durchdringen, dieses Dickicht aus Stämmen, Baumkronen, Lianen, Epiphyten… Innerhalb dieses Hohlweges ließ sich eine Menge Leben sehen. Anakondas sonnten sich an den Ufern. Riesenotter kreischten wie rollige Katzen und machten sich einen Spaß daraus, in einer Phalanx von fünf oder sechs Tieren auf Irma Blocks Linse zuzuschwimmen.
»Als hätten sie das Posieren gelernt«, lobte die Fotografin die Wassermarder, die im Sonnenlicht glänzten.
Yeremi warf einen Blick zurück auf den Fluss, der nun etwa siebeneinhalb Meter breit war. Die Kanus reihten sich hinter dem Führungsboot wie Perlen an einer Schnur. Die Expeditionsleiterin schmunzelte, als sie im letzten Al Leary ausmachte. Der Psychologe blickte stumpf vor sich hin. Er hatte kein Auge für die Schönheiten des Regenwaldes. Zu heiß, zu nass, zu unberechenbar. Und sein Insektenschutzmittel hatte auch versagt.
»Heb dir noch etwas Speicherplatz für die Höhlen des Orion auf«, sagte Yeremi.
Block ließ die schwere Digitalkamera in den Schoß sinken und setzte sich vorsichtig um, bis sie Yeremi gegenübersaß. Die Fotografin lächelte, wobei sich die zahlreichen Fältchen in ihrem wettergegerbten Gesicht noch deutlicher abzeichneten. Sie war ein gutes Dutzend Jahre älter als Yeremi. Menschen, die der kleinen, knochigen Frau zum ersten Mal begegneten, beschrieben sie oft als herb, sogar als schroff, eben jenem Typ Frau zugehörig, dem man nicht auf Anhieb Sanftmut, Umgänglichkeit und Feingefühl attestieren würde. Doch genau diese Eigenschaften besaß Irma Block, Sie war eine gute Zuhörerin. Ihrem Scharfblick entging kaum etwas. Und sie wollte alles immer ganz genau wissen.
»Ich habe in der Fachliteratur nach diesem Namen gesucht, aber nichts darüber gefunden.«
Yeremi lachte. »Die ›Höhlen des Orion‹? Kein Wunder, der ist auf meinem Mist gewachsen.« In knappen Worten spannte sie einen Bogen von der astronomischen Ausrichtung der Pyramiden von Giseh über die Höhlen im mexikanischen Aguascalientes bis zu den Satellitenaufnahmen von den Wassarai Mountains.
»Und? Denkst du, die Weißen Götter existieren wirklich?«, fragte Block.
»Professor McFarells Idee von einem letzten Häuflein weißer Ureinwohner, das irgendwo versteckt in den Wassarai-Bergen lebt, halte ich, gelinde gesagt, für sehr gewagt. Wenn du mich allerdings fragst, ob Amerika blondhaarige weiße Ureinwohner hatte, lautet meine Antwort: ›Ja!‹ Man hat auf diesem Kontinent zahlreiche Mumien mit blonden Haaren entdeckt. In den Gräbern wurden außerdem viele Totenmasken mit eindeutig europäischen Gesichtszügen gefunden. Über mindestens zweitausend Jahre hinweg lassen sich in Mittel- und Südamerika die Legenden von bärtigen blonden Göttern und Kriegern verfolgen. Ihre Darstellungen finden sich an den Tempelfassaden von Chichen Itza, Yucatan und an vielen weiteren heiligen Plätzen. Hinzu kommen zahllose andere Funde, die eine vorkolumbische Verbindung zwischen Alter und Neuer Welt zweifelsfrei
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