Der silberne Sinn
konnte nicht mehr sehen als wild hin und her schlagende Äste. Die steile Uferböschung war von undurchdringlichem Grün überwuchert. Nur ein einzelner, dicker, fast kahler Ast ragte weit auf das Wasser hinaus. Und über diesen hölzernen Pfad, fast zum Greifen nah, lief plötzlich ein Jaguar.
Die Großkatze erreichte mit zwei, drei kraftvollen Sprüngen das Ende des Astes, der bedrohlich wippte. Sie blickte gehetzt aus bernsteinfarbenen Augen auf die Boote hinab, fauchte und wandte sich wieder hechelnd dem Dschungel zu. Der Jaguar war schwarz wie die Nacht. Auf seinem Fell zeichneten sich im Sonnenlicht schwach die arttypischen Flecken und Rosetten ab. Yeremi entdeckte eine stark blutende Wunde an seiner Schulter. Sie schätzte das Tier auf dreihundert Pfund, von der Nase bis zur Schwanzspitze mochte es zweieinhalb Meter lang sein – es war riesig. Und trotzdem hatte der, abgesehen vom Menschen, gefürchtetste Jäger des süd- und mittelamerikanischen Dschungels Angst. Aber vor wem?
Im selben Moment brach ein Hüne aus dem Geäst hervor. Der Mann war an die zwei Meter groß, breitschultrig und muskulös. Er trug nichts weiter als ein buntes Perlenhalsband und einen blauen Wickelrock, der vorn in der Mitte knapp über, hinten und an den Seiten jedoch unter den Knien endete. Doch was den Kanufahrern die Sprache verschlug, war etwas ganz anderes: Der Koloss war weiß, blond, blauäugig und vollbärtig.
Der Waldläufer schreckte vor dem grellen Sonnenlicht zurück. Als er den Unterarm hob, um damit seine Augen zu beschirmen, bemerkte Yeremi einen gewaltigen Dolch in seiner rechten Hand, den man fast schon für ein Kurzschwert halten konnte. Mit dieser Waffe stürzte er sich nun auf den Jaguar.
»Halt das Kanu an! Dreh um!«, befahl Yeremi. In Wachanas Augen spiegelte sich Furcht, aber er gehorchte. Auch die anderen Boote stellten sich in die Strömung. Achtzehn Gesichter waren nach oben gerichtet.
Auf dem schwankenden Ast tobte inzwischen ein Kampf um Leben und Tod. Der weiße Jäger griff den schwarzen gnadenlos an, als ginge es darum, ein für alle Mal den Stärkeren auszumachen. Er besaß ähnliche Reflexe wie die Raubkatze, gepaart mit dem Gleichgewichtssinn eines Hochseilakrobaten. Wenn die mächtigen Pranken des Jaguars nach ihm schlugen, wich er geschickt aus, ohne ein einziges Mal ins Wanken zu geraten. Obwohl auch der Waldläufer aus mehreren Schrammen an Schulter und Hals blutete, zeigte er keine Anzeichen von Ermüdung. Unablässig schnellte seine Klinge vor, um der Katze weitere Wunden zuzufügen.
Yeremi war ebenso fasziniert wie abgestoßen von diesem Kampf, der ihr sinnlos erschien. In Brasilien hatte sie den yaguara, »das Tier, das mit einem Sprung tötet«, wie die Guarani-Indianer sich ausdrückten, zum ersten Mal in freier Wildbahn erlebt. Und genau diese Chance zum Sprung suchte der in die Enge getriebene Jaguar. Gewöhnlich erlegte er seine Beute durch einen gezielten Biss in den Hals oder in den Schädel.
»Schießen Sie ihn ab, Norryl!«, rief Yeremi zu Unsworth hinüber, der in dem von Yuphon Maruwanaru gesteuerten Kanu saß. Der Indianer hielt das Boot mithilfe von Motor und Paddel geschickt in der Strömung.
Dem Pharmakologen war eines der beiden Jagdgewehre anvertraut worden, weil er sich schon in New York seiner Leistungen als Großwildjäger gebrüstet hatte. Jetzt blickte er Yeremi allerdings an, als wisse er nicht, wen er eigentlich ins Visier nehmen sollte – die Katze oder den Mann.
Der Hüne auf dem überhängenden Ast nahm keine Notiz von seinem Publikum. Seine ganze Konzentration galt dem Jaguar. Wieder und wieder schnellte er vor und zurück – wenn die Katze mit Prankenschlägen parierte. Man konnte glauben, der Waldläufer wisse genau, wann das Tier zuschlug.
Endlich hatte Norryl Unsworth das Gewehr aus dem wasserdichten Futteral gezerrt und in Anschlag gebracht. Der Zeitpunkt schien günstig, weil der Jaguar gerade bis zur äußersten Spitze des Astes geflüchtet war. Sein Blut tropfte in den träge dahinziehenden Strom. Norryl hielt die Luft an. Sein Finger krümmte sich am Abzug – als Yuphons Paddel unvermittelt abrutschte und das Kanu schwankend seine Lage änderte. Es war zu spät. Ein Schuss hallte durch den Dschungel. Vögel flogen auf. Affen schrien. Der Jaguar fauchte den Schützen an, und der Waldläufer verwandelte sich in ein versteinertes Abbild seiner selbst.
Die Katze nutzte seine Schrecksekunde. Ihre gewaltigen Muskeln spannten sich unter dem
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