Der Simulant
die Mutter im Clover Inn gekellnert, war aber rausgeschmissen worden, weil sie den Gä s ten irgendwas über ihr Essen erzählt hatte, das sie gar nicht wissen wollten.
Dann war sie verschwunden. Eine paar Tage später war während des leisen, langweiligen Teils irgendeiner pompösen Ballettaufführung eine nicht identifizierte Frau schreiend aus dem Theater gelaufen.
Und deshalb kam eines Tages die Polizei in die Schule und brachte den dummen kleinen Jungen in die Stadt. Um festzustellen, ob er vielleicht von ihr gehört habe. Von der Mutter. Ob er vielleicht wusste, wo sie sich versteckt hielt.
Etwa um die gleiche Zeit stürmten einige hundert sehr wütende Kunden in einen Pelzsalon und schwenkten Fünfzigprozent-Rabattgutscheine, die sie mit der Post bekommen hatten.
Etwa um diese Zeit erschienen tausend sehr veräng s tigte Leute im Bezirkskrankenhaus für sexuell übe r tragbare Krankheiten, um sich testen zu lassen, nac h dem sie in offiziellen Schreiben der Bezirksregierung darauf hingewiesen worden waren, bei einem ihrer früheren Sexpartner habe man eine ansteckende Krankheit diagnostiziert.
Die Polizisten brachten den dummen kleinen Scheißer mit einem Zivilwagen in die Stadt, führten ihn in e i nem Zivilgebäude die Treppe hinauf in ein Zimmer, in dem seine Pflegemutter saß, und fragten, ob Ida Ma n cini versucht habe, mit ihm Kontakt aufzunehmen?
Hast du eine Ahnung, woher sie Geld bekommt?
Was glaubst du, warum macht sie all diese schreckl i chen Sachen?
Und der kleine Junge wartete einfach.
Bald würde schon irgendwie Hilfe nahen.
Die Mutter sagte ihm oft, wie Leid ihr das alles tue. Die Leute hätten so viele Jahre daran gearbeitet, die Welt sicher und überschaubar zu machen. Niemand habe geahnt, wie langweilig das werden würde, wenn die ganze Welt eingezäunt und tempobegrenzt und aufgeteilt und besteuert und reguliert wäre, wenn j e der Mensch getestet und eingetragen und adressiert und registriert wäre. Für Abenteuer sei da kein Platz mehr, außer vielleicht für solche, die man kaufen kö n ne. Auf der Achterbahn. Im Kino. Aber das sei doch immer bloß ein unechter Nervenkitzel. Man weiß doch, dass die Dinosaurier die Kinder nicht fressen werden. Das Testpublikum hat jede Möglichkeit einer größeren, wenn auch nur unechten Katastrophe zu Fall gebracht. Und da es keine echten Katastrophen, keine echten Risiken mehr gibt, haben wir auch keine Chance mehr auf echte Erlösung. Echte Begeisterung. Echte Aufr e gung. Freude. Entdeckung. Erfindung.
Die Gesetze, die uns Sicherheit bieten, ebendiese G e setze verurteilen uns zu einem langweiligen Leben.
Ohne Zugang zum echten Chaos werden wir niemals den wahren Frieden finden.
Solange nicht alles noch schlimmer werden kann, wird es niemals besser werden.
So was hat ihm die Mutter erzählt.
Zum Beispiel: »Das einzige Neuland, das dir noch bleibt, ist die immaterielle Welt. Alles andere ist viel zu gut gesichert.«
Mit zu vielen Vorschriften umgeben.
Die immaterielle Welt, das war für sie das Internet, Filme, Musik, Geschichten, Kunst, Gerüchte, Comp u terprogramme, alles, was man nicht anfassen kann. Virtuelle Realitäten. Fantasie. Kultur.
Das Unwirkliche ist mächtiger als das Wirkliche.
Weil nichts so vollkommen ist, wie man es sich vo r stellen kann.
Weil nur immaterielle Ideen, Begriffe, Überzeugungen, Träume von Dauer sind. Steine zerfallen. Holz verm o dert. Menschen, nun ja, sterben.
Aber etwas so Zerbrechliches wie ein Traum, eine L e gende, das hält ewig.
Wenn man das Denken der Menschen verändern kann, sagte sie. Das Bild, das sie von sich haben. Das Bild, das sie von der Welt haben. Wenn man das tut, ve r ändert man auch das Leben der Menschen. Und das ist das einzige Dauerhafte, das du schaffen kannst.
Im Übrigen, sagte die Mutter, werden deine Erinn e rungen, deine Geschichten und Abenteuer eines Tages das Einzige sein, was dir noch geblieben ist.
Bei ihrem letzten Prozess, bevor die Mutter das letzte Mal ins Gefängnis kam, hatte sie kerzengerade neben dem Richter gesessen und gesagt: »Mein Ziel ist es, das Leben der Menschen mit Abenteuern zu schm ü cken.«
Sie hatte dem dummen kleinen Jungen in die Augen gesehen und gesagt: »Ich will den Menschen zu gr o ßen Geschichten verhelfen, die sie erzählen können.«
Bevor die Wachleute sie in Handschellen aus dem Saal führten, hatte sie geschrien: »Es ist überflüssig, mich zu verurteilen. Unsere Bürokratie und unsere Gesetze haben die ganze Welt
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