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Der Simulant

Der Simulant

Titel: Der Simulant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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der Natur. Kein Ding, das einen Namen hatte.
    »Das ist das große Ziel«, sagte sie. »Ein Heilmittel gegen Wissen zu finden.«
    Gegen Bildung. Dagegen, dass wir immer in unseren Köpfen leben.
    Autos fuhren vorbei, die Mutter und der kleine Junge gingen weiter, der Berg rückte nicht von der Stelle.
    Seit der Geschichte von Adam und Eva in der Bibel sei die Menschheit zu ihrem eigenen Schaden immer ein bisschen zu klug gewesen, sagte die Mutter. Seit j e nem Biss in den Apfel. Ihr Ziel sei es, wenn schon kein Heilmittel, dann doch wenigstens eine Methode zu fi n den, die dazu beitragen könnte, den Menschen ihre Unschuld zurückzugeben.
    Formaldehyd half da nicht. Digitalis half da nicht.
    Naturdrogen brachten anscheinend alle nichts, ob man nun Muskatblüten, Muskatnüsse oder Erdnussschalen rauchte. Ob man Dill, Hortensienblätter oder La t tichsaft zu sich nahm.
    Nachts schlich die Mutter mit dem kleinen Jungen durch die Gärten fremder Leute. Sie trank das Bier, das die Leute in Bechern hingestellt hatten, um Wü r mer und Schnecken zu fangen; sie knabberte das Laub der Sträucher dort, Stechapfel, Nachtschatten und Katzenminze. Sie drückte sich an geparkte Autos und schnüffelte am Tank. Sie suchte die Einfüllstutzen der Heizöltanks im Rasen, schraubte sie auf und schnüffe l te.
    »Wenn Eva uns in diesen Schlamassel reinbringen konnte, kann sie uns auch wieder da rausholen, ne h me ich mal an«, sagte die Mutter. »Gott liebt tatkräft i ge Menschen.«
    Immer wieder bremsten Autos ab, Autos mit Familien, voll gestopft mit Gepäck und Hunden, aber die Mutter winkte sie alle weiter.
    »Die Großhirnrinde, das Kleinhirn«, sagte sie. »Genau da steckt das Problem.«
    Wenn sie es schaffen würde, einfach nur ihren Hir n stamm zu benutzen, wäre sie geheilt.
    Das wäre ein Zustand jenseits von Glück und Trauer.
    Fische leiden nicht unter heftigen Stimmungsschwa n kungen.
    Schwämme haben niemals einen schlechten Tag.
    Der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Die vorbeira u schenden Autos machten ihren eigenen warmen Wind.
    »Ich habe nicht das Ziel«, sagte die Mutter, »mein Leben zu vereinfachen.«
    Sie sagte: »Ich habe das Ziel, mich selbst zu vereinf a chen.«
    Sie erzählte dem dummen kleinen Jungen: Die Samen der Purpurwinde helfen da nicht. Sie habe das auspr o biert. Die Wirkung sei nicht von Dauer. Die Blätter der Süßkartoffel helfen da nicht. Auch nicht Pyrethrum, das aus Chrysanthemen extrahiert wird. Es hilft auch nicht, Propangas zu schnüffeln. Oder die Blätter von Rhabarber oder Azaleen zu essen.
    Nach einer Nacht in fremden Gärten wies dort fast jede Pflanze Bissspuren der Mutter auf.
    Diese kosmetischen Drogen, sagte sie, diese Sti m mungsausgleicher und Antidepressiva, die behandeln nur die Symptome der größeren Probleme.
    Mit jeder Sucht, sagte sie, versuche man nur, gegen eben dieses Problem anzugehen. Drogen, übermäßiges Essen, Alkohol , Sex, das alles seien nur Versuche, Frieden zu finden. Unserem Wissen zu entfliehen. U n serer Bildung. Unserem Bissen von dem Apfel.
    Die Sprache, sagte sie, dient uns nur dazu, die Wu n der und Herrlichkeiten der Welt wegzuerklären. Abz u schwächen. Abzutun. Sie sagte, die Menschen ko m men nicht damit zurecht, wie schön die Welt tatsäc h lich ist. Dass die Welt sich nicht erklären und begreifen lässt.
    Vor ihnen an der Straße erschien ein Restaurant, u m stellt von Lastwagen, die alle größer waren als das Restaurant selbst. Auch einige von den neuen Autos, mit denen die Mutter nicht hatte fahren wollen, par k ten dort. In der Luft hingen die Gerüche vieler ve r schiedener Mahlzeiten, die alle im selben Öl frittiert wurden. Und der Geruch der Lkw-Motoren, die im Leerlauf liefen.
    »Wir leben nicht mehr in der wirklichen Welt«, sagte sie. »Wir leben in einer Welt voller Symbole.«
    Die Mutter blieb stehen und griff in die Handtasche. Sie legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und sah nach dem Berg. »Nur ein letzter kleiner Blick auf die Wirklichkeit«, sagte sie. »Dann gibt ’ s was zu e s sen.«
    Sie schob sich das weiße Röhrchen in die Nase und sog ein.

24
    Paige Marshall zufolge war meine Mutter schon mit mir schwanger, als sie aus Italien kam. Im Jahr zuvor ha t te jemand in Norditalien einen Kircheneinbruch verübt. Beides stand so im Tagebuch meiner Mutter.
    Sagt Paige Marshall.
    Meine Mutter hatte auf eine neue Methode der Repr o duktionsmedizin gesetzt. Sie war schon fast vierzig. Sie war nicht verheiratet, sie

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