Der Simulator
geheimnisvolles Versprechen, jedes Gesicht, das er im Halbdunkel ausforschte, jedes der fremdartigen Worte, die die Luft erfüllten, waren der Vorbote kommender Abenteuer. Das war sein Sommer, das spürte er an diesem Abend ganz deutlich, er hatte ihn sich erkämpft gegen den nüchternen Widerstand der Eltern, gegen jenen anderen und schwerer zu überwindenden der Verlobten. Im September würde er zurückkehren und das tun, was man von ihm erwartete, Anne heiraten, die Lektorenstelle im Verlag antreten. Er freute sich darauf, darauf und auf den Gedichtband, den er dann hoffentlich veröffentlichen würde. Sein zukünftiges Leben lag wie ein fertig geschriebenes Buch vor ihm, das eine oder andere Datum musste eingesetzt werden, und es gab Namen, die noch austauschbar waren, Orte sich erst einfinden würden. Doch war sein Leben vorgezeichnet. Das zu wissen beruhigte ihn an diesem Abend. Was auch immer geschähe, in wenigen Monaten würde er sein eigentliches Leben wieder aufnehmen, und die Zeit in Italien wäre eine Episode, an die er sich erinnern konnte, mehr nicht.
Morgen schon wollte er anfangen, an seinen Gedichten zu arbeiten. Als erstes wollte er dieses Gefühl in Worte fassen, dass ihn an diesem Abend erfüllte, dieses Schweben zwischen dem Alten und dem Neuen. Schon in der übernächsten Woche, so hatte er angeboten, könnte er einige der neuen Gedichte in der Runde vorstellen. Als Arkadij zwischen Käse und Obst den Vorschlag gemacht hatte, im wöchentlichen Wechsel Kostproben ihres künstlerischen Schaffens im kleinen Kreis zur Aufführung zu bringen, einen Salon Jeudi einzurichten, wie er die Veranstaltung ob des Wochentages, an dem sie stattfinden sollte, vollmundig getauft hatte, war die Wahl der Debütierenden zwar spontan auf Lidia gefallen. Schließlich sollten einige italienische Klavierstücke, das hatten sie sich ausdrücklich erbeten, zu ihrem Repertoire gehören und deshalb die geringste Vorbereitung erfordern. Als sich aber dann alle bedeckt hielten, wer als nächster an der Reihe käme, ein Dichter oder Schriftsteller, wie gefordert worden war, um den Proporz der schönen Künste zu wahren, hatte Maximilian sich in ungewohnter Forschheit vorgewagt, mehr zum seinem eigenen Erstaunen als zu jenem der anderen. Dass Massimo Giacometti dieses Vorpreschen nicht gerade erfreut aufnahm, das hatte er erwartet, und möglicherweise war ihm genau dies Ansporn gewesen. Der junge Italiener machte einen halbherzigen Versuch, darauf hinzuweisen, dass einige seiner besten Poeme bereits auf Französisch übersetzt seinen und diese Arbeit somit entfallen könne, was Scott mit dem Hinweis vom Tisch wischte, die Lesungen hätten Werkstattcharakter, und da störe eine gewisse Vorläufigkeit keineswegs, im Gegenteil, er ermutige sogar, Unfertiges vorzustellen.
Josef Lindemann fuhr sich durch den rötlichen Bart. Er blickte in Richtung der offenbar immer noch streitenden Russen, doch glaubte Maximilian, dass er mehr Augen für Germaine hatte als für die ungleichen Brüder.
»Eine interessante Frau«, bemerkte er deshalb, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Wer, Germaine?« Josef sah auf. Er schien in Gedanken weit weg gewesen zu sein, und Maximilian war sich nicht mehr sicher, ob sein Blick tatsächlich der Französin gegolten hatte. »Ja, sie hat Esprit.« Er schenkte sich Wein nach und trank einen Schluck. Er hatte dunkle Ringe um die tief sitzenden Augen, und seine durchsichtigen Hände zitterten ein wenig, als er das Glas zum Mund führte. »Ich würde sie natürlich beide nehmen. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich wohl dennoch Lidia vorziehen. Ich liebe Italien.« Schon seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, sei Italienerin gewesen, und so habe auch er italienisches Blut in den Adern. »Wenig, gewiss« - er fuhr sich verlegen lächelnd durch das rötliche Haar - »Kelten, Normannen, Buren. Viele haben ihren Teil dazu beigetragen. Und doch, Max, glauben Sie mir« - er klopfte sich ein paar Mal an die Brust - »meinem Herzen hier steht dieses Land näher als jedes andere.« Das Vaterland natürlich ausgenommen, aber das sei selbstverständlich.
Maximilian, der sich an den morgendlichen Grenzübertritt erinnerte, an das mit Vertrautheit gepaarte Gefühl des Willkommenseins, nickte und schwieg.
»Aber das ist alles graue Theorie...« Josefs Stimme klang müde, fast traurig. Er sprach langsam, als müsse er lange über jedes Wort nachdenken. »Sie sind zwar erst heute angekommen, aber
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