Der Simulator
Garage, dessen Farbe gar. Und wenn man das alles wusste, wenn man wusste, wie all diese unzähligen Prozesse zusammenwirkten, dann konnte man die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft vorhersagen. Vorhersagen! War das nicht das Größte, was man wollen konnte?
Aber das war Kerstin natürlich geläufig, und ich sparte mir den Versuch, sie erneut zu belehren.
»Norbert Blinzle hatte schon wer weiß wie lange darüber nachgedacht. Wozu überhaupt echte Menschen befragen? Gab es nicht schon längst Monte Carlo-Studien, mit denen man Verteilungen simulierte? Das Bayes-Theorem?« Für einen Moment wünschte ich mir, Kerstin und ich unterhielten uns tatsächlich zwanglos in einem Café der Heidelberger Altstadt, und kein Kowalski, kein Sinex stünde unsichtbar zwischen uns. »Konnte man da nicht gleich eine ganze Gesellschaft auf der Grundlage des Sinex-Milieumodells simulieren?« Ich sah auf ihre braungebrannten Arme, auf die durchsichtigen winzigen Härchen darauf, über die der Abendwind strich. »Zum Simulator ist es nur ein kleiner Schritt, viel kleiner als man glauben mag.«
»So eine Art Trendmodell also. Man legt Ausgangsbedingungen fest und berechnet, wie sie sich weiterentwickeln werden…«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein«, ich schüttelte unmerklich den Kopf. »Man simuliert keine Zusammenhänge. Man simuliert … Menschen.«
»Menschen?« Diesmal schien sie tatsächlich verblüfft. Vielleicht ihre erste echte Regung an diesem Abend.
»Ja, wir haben eine künstliche Welt erschaffen. Künstliche Menschen, die in künstlichen Häusern leben und einer künstlichen Arbeit nachgehen. Sie fahren mit simulierten Autos in simulierte Supermärkte, um simulierte Lebensmittel zu kaufen. Sie führen ihren Hund Gassi und abends sitzen sie vor ihrem Computer oder Fernseher und werden mit Werbung berieselt, fluchen hierbei genauso, wie es ihre echten Vorbilder tun.«
»Wie viele…« Ihre Stimme war fast zu einem Flüstern geworden.
»Bisher haben wir 10.000 Einheiten im System.«
»10.000. Mein Gott!«
»Ja, Blinzle war ein Gott. Ein kleiner Gott, der nur eine Kleinstadt erschaffen hat, aber immerhin ein Gott.«
Eine Weile schwiegen wir, schließlich sagte sie: »Und jetzt sind Sie ein Gott.« Sie lächelte wieder. Sie schie sich von den Neuigkeiten bereits erholt zu haben.
So hatte ich es noch gar nicht gesehen.
Später schlenderte ich über die Terrasse. Ich hatte die großen Glastüren im Blick, die zum Hochgeschwindigkeitsaufzug führten. Dieser verband das Erdgeschoß direkt mit dem Penthouse, wo sich auch Kowalskis Büro befand. Für die anderen Stockwerke gab es andere Aufzüge. Ich wartete auf eine günstige Gelegenheit, um unauffällig zu verschwinden.
Kowalski war in Höchstform. Er wurde von Journalisten umringt, strahlte, sprach laut und unterstrich seine Worte mit den eindringlichen Bewegungen seiner Arme und Hände. Er war der beste Verkäufer, den ich je kennengelernt hatte. Er konnte jedem alles andrehen, eine Fähigkeit, die in der Wirtschaft im Allgemeinen und in der Marktforschung im Besonderen von unschätzbarem Wert war.
»Wo, denken Sie, finden wir heute die fortschrittlichsten Simulationen?« hörte ich Kowalski die Journalisten fragen. »In Computerspielen und…«, er machte eine kleine Kunstpause, »…beim Militär.« Stimmen wurden laut, die er, wie ein Dirigent, mit einer winzigen Bewegung seiner Hand zum Verstummen brachte. »Das Militär! Meine Damen und Herren, ist es nicht an der Zeit, diese neuen erstaunlichen Errungenschaften der Wissenschaft einem wirklich sinnvollen Zweck zuzuführen?«
Zum ersten Mal sei man in der Lage, ganze Gesellschaften nachzubilden und jene Mechanismen zu erforschen, die sie zusammenhielten. Zum ersten Mal könne man zukünftige Entwicklungen vorwegnehmen, sie auf ihre vorteilhaften und auf ihre schädlichen Auswirkungen für die Gemeinschaft prüfen. »Social Ingeneering!« Kowalski liebte Schlagworte, und am meisten liebte er es, neue Schlagworte zu erfinden. Wenn sie auf Englisch waren, umso besser. »Die Gentechnik erschafft neue Menschen. Wir erschaffen eine neue Gesellschaft!«
Er gönnte seinen Zuhörern einen Blick in die Zukunft, einen Blick in eine Gesellschaft, in der der Wohlstand gerecht verteilt und die Umwelt intakt war, wo der Fortschritt nicht Folge einer blinden technischen Entwicklung war, sondern einer bewussten politischen Entscheidung, die allen diente.
Friedlich zusammenlebende Menschen, fröhliche, engagierte, kreative
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