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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Michelangelos Kammer ein Wunder ereignet haben. Denn als der Morgen graute und der Künstler die Stufen herabgestiegen kam, war er nicht länger der Mann der letzten Monate. Aurelio spürte es, noch bevor sein Meister das erste Wort an ihn richtete. Alle spürten es. Außer vielleicht Bugiardini. Aber der spürte selten mehr als Hunger und Müdigkeit.
    Diesmal war es Aurelio gewesen, der die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, während sein Meister zu schlafen schien wie ein Säugling. Nicht ein Schritt war aus seiner Kammer zu vernehmen, nicht einmal das Knacken seines Bettes oder das Knarzen seines Stuhls. Aurelio lag auf dem Rücken und starrte in das geräuschlose Nichts über ihm. Immer wieder zweifelte er an seinem Verstand. Oder an dem der anderen. Wie hatte sein Meister aus der Sistina verschwinden und in seinem Haus wieder auftauchen können? Oder hatten sich Rosselli und die anderen täuschen lassen? Waren sie einer Illusion erlegen, einem Trick? War ihnen Michelangelos Geist erschienen? Aurelio spitzte die Ohren. Kein Laut. Nicht einmal das Pfeifen seiner Nase.
    Endlich stand er auf. Die Ungewissheit bohrte sich ihm wie ein Stachel ins Fleisch. Barfuß schlich er aus der Tür, über die Steinfliesen des Vorraums, die Stufen zu Michelangelos Kammer hinauf. Vor der Tür hielt er inne. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, sonst nichts. Kein Licht, kein Laut. Aurelio legte sein Ohr an die Tür.
    »Geh zurück ins Bett, Aurelio.«
    Aurelio biss sich derart fest auf die Zunge, dass sein Mund einen Augenblick später von dem metallischen Geschmack seines Blutes erfüllt war.
    »Ich muss nachdenken.« Michelangelo sprach im Flüsterton. »Doch solange ich dich vor meiner Tür weiß, kann ich das nicht.«
    Aurelio schluckte sein Blut hinunter und kehrte in seine Kammer zurück. Wenn in Michelangelos Bett ein Geist lag, so war es ein sehr lebendiger.
    * * *
    Die Mitglieder der Bottega saßen um den Küchentisch, Schalen mit Weizenschleim vor sich. Sie hatten einen Tag erwartet, der sich durch nichts von den letzten hundert unterscheiden würde: kalt, feucht, düster. Mit einem Michelangelo, der an sich selbst und seiner Arbeit litt und dies auf Jahre hinaus tun würde. Doch heute war etwas anders. Einer nach dem anderen hörte auf zu essen. Verunsicherte Blicke wechselten die Seiten.
    »Was glotzt ihr so?« Michelangelos Stimme hatte sich über Nacht um zehn Jahre verjüngt. » Andiamo! «
    Verwundert standen alle vom Tisch auf, ließen ihre halb leergegessenen Schalen zurück und eilten in den Vorraum.
    Er wollte von innen nach außen arbeiten. Nach jeder der neun Szenen auf der Zentralachse sollte sich das Fresko zunächst die dazugehörigen Außenbereiche erschließen. Heute also würden sie die beiden nackten Männer in Angriff nehmen, die später, wenn die Scheinarchitektur Gestalt angenommen hätte, auf den Schenkeln der an die Sintflut angrenzenden Spandrille liegen würden.
    Kaum hatten sie das Gerüst bestiegen, wies Michelangelo die Bottega an, eine Giornata von zwei Dutzend Quadratfuß vorzubereiten.
    »Das ist das Dreifache der bisherigen Giornate«, gab Rosselli zu bedenken.
    Michelangelo lupfte eine buschige Augenbraue. »Wenn du es sagst.« Er wandte sich an Bugiardini. »Ich werde eine Menge Terra di Siena benötigen.«
    Bugiardini nahm den großen Bronzemörser und begann, die aus Tonerde gewonnenen Pigmente zu zerreiben.
    Als Bastiano den Karton entrollte, stockten seine Hände in der Bewegung. Die Vorzeichnung war nur eine Skizze, die Position der Liegefigur lediglich angedeutet. Nicht einmal das Gesicht war detailliert ausgeführt.
    Michelangelo kam Bastianos Frage zuvor: »Mehr werden wir nicht brauchen.«
    Bastiano setzte zu einer Erwiderung an, griff aber stattdessen zur Nadel und perforierte den Karton.
    Als Michelangelo das sah, sagte er: »Lass gut sein. Wir drücken die Linien einfach mit dem Stift durch.«
    So folgte an diesem Tag eine Verwunderung auf die nächste. Kaum war der Intonaco aufgetragen und Bastiano hatte die Linien der Vorzeichnung in den Putz durchgedrückt, tauchte Michelangelo den Pinsel in die angerührte Farbe. So begierig war er, endlich die Giornata in Angriff zu nehmen, dass er nicht einmal abwartete, bis sich die Haut auf dem Intonaco gebildet hatte. Gleich an mehreren Stellen ritzten die Borsten die Oberfläche an. Die Geschwindigkeit, mit der sein Pinsel auf dem fertiggestellten Hintergrund erst die Figur entstehen ließ, um ihren Körper anschließend

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