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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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die Bottega gegangen. Der Glaube an die Erreichbarkeit des gemeinsamen Ziels war erschüttert worden. Und ohne diesen Glauben verlor die Bottega ihren Zusammenhalt. Am deutlichsten zeigte es sich an Tedesco. Kein Mitglied der Bottega war frei von Zweifeln, doch was Jacopo betraf, schien er dem Unterfangen nicht einmal mehr eine zweite Chance geben zu wollen . Stattdessen lauerte er darauf, dass Michelangelo endgültig scheiterte. Jeden Morgen, sobald sie aus dem Haus traten, um im Schein ihrer beiden Laternen durch den eisigen Regen in den Vatikan hinüberzugehen, sagte er. »Bin gespannt, was uns heute erwartet.« Als sei es nur eine Frage der Zeit, bis der Schimmel das Fresko erneut befiel.
    Tedescos Klagen über die karge Unterbringung in Michelangelos Haus waren ebenso beständig. So wie er jeden Morgen den Untergang des Freskos herbeiredete, so konnte er abends nicht ins Bett gehen, ohne vorher zu bemerken, dass keine Ziege sein Lager mit ihm teilen würde, da der blanke Boden bequemer sei. Am meisten aber beleidigte ihn die Arroganz Michelangelos, mit der dieser jeden Fingerbreit des Freskos gegen einen fremden Pinsel verteidigte. Wozu hatte Michelangelo ihn, Tedesco, nach Rom geholt – wenn er darauf bestand, alles alleine zu machen? Und das, wo doch Tedesco wie die anderen in Ghirlandaios Bottega gelernt hatte und seit über zehn Jahren als Freskant arbeitete. Alles, was er von der Sintflut hatte malen dürfen, erschöpfte sich in einem Flecken Wasser, etwas Himmel und zwei Ästen des Baumes.
    An einem Montagmorgen Ende Januar hatte Tedesco nach einer neuerlichen Herabwürdigung durch Michelangelo gesagt: »Wenn ich gewusst hätte, dass du mich nach Rom holst, um dir beim Arbeiten zuzusehen …«
    Michelangelo setzte den Pinsel ab. »Dann was – hättest du es vorgezogen, in Florenz zu bleiben? Ist es das, was du sagen willst?«
    Tedesco ersparte sich die Antwort.
    Michelangelo tauchte den Pinsel in die Farbe und setzte ihn da an, wo er ihn zuvor abgesetzt hatte. »Die Kutschen fahren ganzjährig«, sagte er.
    Tedesco überlegte kurz, legte seinen Pinsel aus der Hand und stieg von der Bühne. Kurz darauf ging die Tür. Am nächsten Morgen verließ er die Bottega. Als er sich von den anderen verabschiedete, sagte er, »wir sehen uns in Florenz«, womit er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass er nicht als Einziger vorzeitig die Bottega verlassen würde. Er sollte recht behalten.
    * * *
    Michelangelo verzichtete darauf, seine Arbeit ein zweites Mal zu zerstören. Es war Granacci, der ihn dazu bewog. Sie standen im Zentrum eines Steinmosaiks und blickten durch den Spalt zwischen den Planen. Das Gewölbe war von deutlich mehr Licht erfüllt als am Abend zuvor.
    »Achtundfünfzig«, sagte Granacci.
    »Das weißt du, weil du sie gestern noch gezählt hast.«
    »Nichts anderes habe ich behauptet«, gab Granacci zu.
    »Es sind zu viele. Und sie sind zu klein.«
    Granacci holte tief Luft. Sollte Michelangelo tatsächlich darauf bestehen, den Intonaco noch einmal abzutragen, wäre die Bottega endgültig am Ende. »Sie sind großartig«, sagte er. »Sie leiden und sie kämpfen um ihr Leben. Jeder Fingerbreit von ihnen ist in Bewegung erstarrte Verzweiflung. Die Kardinäle werden sich beim Anblick der Szene heimlich die Tränen aus den Augen wischen.«
    »Die Figuren sind zu klein«, beharrte Michelangelo. Es war, als suche er nach einem Grund, seine Arbeit erneut abschlagen zu können.
    »Du hast recht. Sie sind zu klein.« Granacci legte dem neben ihm umso schmächtiger wirkenden Freund einen Arm um die Schulter und beschrieb mit dem anderen eine ausholende Geste. »Aber dir bleiben noch schätzungsweise achttausend Quadratfuß, um sie größer zu machen.«
    Michelangelo faltete die Hände. Seine Finger rangen miteinander.
    »Wenn du in diesem Leben«, fuhr Granacci fort, »noch einmal zu dem Marmor zurückkehren willst, der auf dem Petersplatz Patina ansetzt, wirst du nicht umhinkommen, Teile dieser Arbeit für abgeschlossen zu erklären und dich den nächsten zuzuwenden.«
    Bei der Erwähnung des Marmors bohrten sich Michelangelos verschränkte Finger in seine Handrücken. Nur unter sichtbarer Willensaufbietung gelang es ihm, sie voneinander zu lösen. Sein Freund hatte ihm soeben nahegelegt, Verrat an seinen künstlerischen Idealen zu begehen. Etwas, das er sich geschworen hatte, niemals zuzulassen. Doch Granacci hatte recht: Wenn er jemals zu seinem Marmor zurückkehren wollte …
    »Es ist das erste

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