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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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den Putz übertragen sollte.
    Ähnlich verhielt es sich mit den Farben. Michelangelo hatte für Künstler, die, wie er sagte, ihren Mangel an Begabung durch die Leuchtkraft der Farben zu überdecken versuchten, nur Verachtung übrig. Kräftige Farben waren mit äußerster Zurückhaltung zu verwenden, und nur, solange sie die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht in falsche Bahnen lenkten. Entsprechend waren bei der Sintflut neben Azurit vor allem erdige und fleischfarbene Pigmente zum Einsatz gekommen. Doch auch hier galt: Je näher sie den Wandstreifen kamen, desto freier und kühner die Farbwahl, desto williger ließ Michelangelo sich verführen. Bis sie die erste Lünette in Angriff nahmen, hatte er sich die gesamte Palette untertan gemacht: Gelb, Orange, Rot, Rosa, Grün … Die strahlendsten Farben, die zu bekommen waren. Und manchmal vermischte er sie sogar.
    * * *
    Michelangelo hatte damit gerechnet, dass Julius sein Konterfei an der Kapellendecke verewigt sehen wollte. Zacharias, der Prophet, der den Einzug Christi in Jerusalem vorhergesagt hatte, schien ihm dafür wie geschaffen. Ein alttestamentarischer Titan, der zwischen zwei Pendentifs thronen würde, direkt oberhalb des Haupteingangs, gegenüber der Altarwand. Jeder, der die Kapelle verließ, würde zuletzt in sein Gesicht blicken. Ein Papst, der sich als zweiten Julius Caesar bezeichnete und seinen triumphalen Einzug in die Stadt nach der erfolgreichen Rückeroberung Bolognas extra auf den Palmsonntag gelegt hatte, hätte kein anderes als sein eigenes Antlitz an solch prominenter Stelle erdulden können. Noch dazu, wo sein Onkel Sixtus das Familienwappen der Rovere über dem Eingang hatte anbringen lassen.
    Zacharias war einer der Propheten, die gemeinsam mit den Sibyllen für die Bereiche zwischen den Spandrillen vorgesehen waren. Nie zuvor war eine einzelne Figur solchen Ausmaßes in fresco buono gemalt worden. Und niemand aus der Bottega war ernstlich überrascht, als Bastiano den ersten Karton der Zachariasfigur entrollte und ihm die prominente Nase und die energisch zerfurchte Stirn des Papstes entgegenstach. Was hingegen alle – mit Ausnahme von Michelangelo selbst – überraschte, war der Umstand, dass die Vorzeichnung lediglich aus dem Umriss des Profils, einem ausgearbeiteten Auge, dem angedeuteten Kinn und einer Ohrmuschel bestand. Der größte Teil des Kartons war leer.
    Ungläubig blickte Bastiano auf.
    »Die Augenpartie und die Nase sollten wir perforieren«, sagte Michelangelo, als erkläre das die leere Fläche. »Zur Sicherheit.«
    »Was ist mit dem Rest?«, fragte Bastiano.
    Michelangelo legte den Kopf schief und betrachtete den Karton. »Welchem Rest?«
    »Davon spreche ich ja.« Inzwischen hatten sich die anderen in einem Halbkreis um den auf dem Gerüst ausgebreiteten Karton versammelt. »Wo ist der Rest?«
    »Für den brauche ich keinen Karton.«
    Während Bugiardini noch grübelte, wie diese Antwort zu verstehen sei, blickten sich Rosselli und Bastiano fragend an. Hatte Michelangelo nach den letzten wie in Trance verbrachten Wochen den Kontakt zur Wirklichkeit nun vollends verloren?
    »Was …?« Weiter kam Rosselli nicht.
    »Ich werde frei Hand malen«, erklärte Michelangelo.
    Bastiano rang nach Luft. »Wenn der Körper die Proportionen des Kopfes weiterführen soll, dann wird die Figur selbst sitzend noch« – sein Kopf schwankte ungläubig hin und her – »zwölf Fuß groß sein?«
    »Ich dachte an vierzehn.«
    Inzwischen gab es niemanden mehr auf der Arbeitsbühne, der nicht ratlos gewesen wäre. Vierzehn Fuß. Mehr als doppelte Lebensgröße.
    »Zacharias wird sich seinen Raum schon schaffen«, versuchte Michelangelo seine Mitarbeiter zu beruhigen.
    »Ohne Vorzeichnung?«
    Michelangelos Stimme nahm einen entschuldigenden Ton an. »Die würde mich nur behindern.«
    Rosselli wandte den Kopf ab. Bugiardini schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
    »Was ist mit der Wölbung?«, insistierte Bastiano.
    »Was ist mit ihr?«
    »Der Wandstreifen ist viel stärker gewölbt als der Deckenspiegel. Ihr werdet di sotto in sù malen müssen.«
    »Und du glaubst, das wüsste ich nicht?«
    * * *
    Wie in einem atemlosen Traum brachte Michelangelo die Farben in den Intonaco ein. Innerhalb eines halben Jahres hatte er eine Meisterschaft erlangt, die Agnolo in ungläubiges Erstaunen versetzte, Bastiano in einen Abgrund aus Wollen und Verzweifeln stürzte und Rosselli jeden Tag zu neuen Bewunderungsausbrüchen hinriss.

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