Der Sixtinische Himmel
mit Haut zu bedecken und mit Leben zu füllen, trieb Agnolo Sorgenfalten auf die Stirn. Bugiardini bekam bereits vom Zuschauen Kopfschmerzen. Zwei Stunden vor der Zeit war die Giornata fertiggestellt. Eine Fläche, dreimal so groß wie die bisherigen. Die Figur war gelungen. Mehr als gelungen. Sie war, trotz der komplizierten Haltung, ohne jeden Makel.
»Morgen will ich eine Fläche von dreißig Quadratfuß«, sagte Michelangelo, während er sein Handgelenk ausschüttelte und langsam seinen Nacken kreisen ließ. Da begriff es sogar Bugiardini: Die Krise war überwunden.
* * *
Der Rausch, in den sich Michelangelo an diesem Tag hineingesteigert hatte, hielt nicht an. Er verstärkte sich. Sein Furor war zurückgekehrt, seine Leidenschaft, die er noch wenige Tage zuvor verloren geglaubt hatte. Aurelio konnte nicht aufhören, sich zu fragen, was in jener Nacht mit seinem Meister geschehen war. Gerne hätte er mit jemandem darüber geredet, sich anvertraut. Doch wem? Granacci? Der würde die Angelegenheit mit einem Becher Wein hinunterspülen: War es nicht gleichgültig, wodurch Michelangelo seinen Willen zurückbekommen hatte? Und was war mit Margherita? Die verstand Aurelio doch nie wirklich. Piero? Der noch am ehesten. Doch außer Aurelio hatte niemand die beiden Männer aus dem Belvedere gesehen. Was, wenn Piero ihm nicht glaubte? Und was, wenn er ihm glaubte? Hinzu kam, dass Aurelio das unbestimmte Gefühl hatte, sein Geheimnis besser nicht preiszugeben. Dieser Nacht wohnte eine diffuse Bedrohung inne, und sie würde nicht geringer werden, indem man sie ans Licht zu zerren versuchte.
Es zeigte sich, dass es auch sein Gutes gehabt hatte, das Fresko noch einmal von neuem zu beginnen. Michelangelo hatte in den vergangenen Monaten im Umgang mit Farbe und Pinsel so viel an Erfahrung hinzugewonnen, dass er jetzt, nachdem er seine Zweifel domestiziert hatte, mit einer Sicherheit die Farben in den Intonaco einbrachte, die insbesondere Bastiano oft vergessen ließ, was er gerade zu tun im Begriff war. Außerdem hatte Michelangelo eigene, neue Maltechniken entwickelt: Gelegentlich verzichtete er darauf, das Wasser aus dem Pinsel zu drücken, und trug die Farben absichtlich verdünnt auf. Dann umgab die Figuren später ein geheimnisvoller Schleier. Und um die Schatten beispielsweise eines Faltenwurfs darzustellen, verwendete er nicht, wie es übliche Praxis war, dasselbe Pigment in einem anderen Mischungsverhältnis, sondern er wechselte die Farben, ohne dass sich an den Nahtstellen Brüche zeigten. Für die tiefen Falten eines orangefarbenen Gewandes beispielsweise verwendete er ein dunkles Grün.
All dies war der Ausdruck einer Befreiung, die niemand verstand. Als streife Michelangelo jeden Tag neuen Ballast ab, um noch weiter in die Lüfte zu steigen, noch unabhängiger zu werden. Bramante, der ihn so sehr sehr verfolgt hatte: Wann hatte Aurelio seinen Meister das letzte Mal über ihn reden hören? Raffael, der, nur durch zwei Mauern getrennt Julius’ Gemächer mit Fresken versah: Was hatte Michelangelo von ihm schon zu fürchten? Julius selbst, dessen bloße Gegenwart ihm oftmals körperliche Pein verursacht hatte: Erst vor wenigen Tagen war er in die Kapelle gekommen, um sich über den Fortgang des Freskos zu erkundigen, und hatte von Michelangelo nichts als freundliche Herablassung erhalten.
»Wie geht die Arbeit voran?«, hatte Julius gefragt.
»Sie geht voran, Heiliger Vater.«
»Ja, aber wie geht sie voran?«, insistierte der Papst.
»Sie geht so voran, wie sie vorangeht«, sagte Michelangelo seelenruhig. Und bevor Julius Gelegenheit hatte, seinen gefürchteten Stock auf das Steinmosaik krachen zu lassen, fuhr er fort: »Entschuldigt mich, Heiliger Vater, das Fresko verlangt nach mir«, verbeugte sich und stieg mit einem Lächeln die Leiter zum Gerüst empor.
Je weiter Michelangelo sich von der Sintflut entfernte und zu den Wandstreifen vorarbeitete, umso größer die Freiheit, mit der er zu Werke ging, und umso größer die Giornate, die er auftragen ließ. Hatte die erste Schöpfungsszene noch gut zwei Monate beansprucht, so benötigte er für die beiden stark gewölbten Spandrillen rechts und links der Sintflut lediglich zwei Wochen. Für manche Giornate drückte er Bastiano statt eines fertig ausgearbeiteten Kartons lediglich einen Primo Pensiero in die Hand, einen nachlässig hingeworfenen ersten Gedanken, der zuweilen so grob skizzenhaft ausgeführt war, dass Bastiano gar nicht wusste, was er davon in
Weitere Kostenlose Bücher