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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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vorüber, von Michelangelo jedoch gab es noch immer kein Lebenszeichen. Aurelios brennende Neugier war einer diffusen Sorge gewichen. Was machten die beiden Männer so lange mit seinem Meister? Wer war es, der Michelangelo zu sehen wünschte? Und wo? Oder hatte die vermeintliche Einladung nur als Vorwand gedient? Und wenn ja: zu was? Im Schatten einer Gruppe von Ministranten, die die Kapelle für die Zeremonien anlässlich des Gedenktags zu Ehren der Jungfrau Agatha von Catania vorbereiten sollten, schlich Aurelio in die Kapelle zurück.
    Sein Meister war nicht da. Nirgends. Aurelio spähte durch das Gitter, das den Altarbereich abtrennte. Nichts – abgesehen von dem leisen Gemurmel der Ministranten, die den Altar schmückten. Auf lautlosen Sohlen ging Aurelio zum Seiteneingang, durch den Papst Julius die Kapelle betreten hatte, nachdem er ihnen erstmals auf dem Balkon erschienen war. Denselben Eingang hatten vorhin die beiden Männer gewählt. Aurelio öffnete die Tür einen Spalt, schlüpfte hindurch und fand sich in einem niedrigen Durchgang wieder. An ihrer Basis waren die Mauern der Sistina zehn Fuß stark. Er musste sich also innerhalb der Kapellenmauer befinden. Das einzige Licht drang durch den Türspalt herein. In einer Nische fristete eine marmorne Figurine ihr karges Dasein, sonst gab es noch zwei weitere Ausgänge: einen, der in die Mauer hineinzuführen schien und offenbar die Verbindung zum Balkon darstellte, sowie einen, der dem Zugang zur Kapelle gegenüberlag. Dieser musste nach draußen führen. Aurelio spürte die feuchte Kälte, als er seine Hände auf die Bronzebeschläge legte. Doch die Tür war mit schweren Riegeln und Balken gesichert, und zwar von innen. Durch sie konnten die Männer das Gebäude nicht verlassen haben. Auch die Tür zum Balkon war von innen verriegelt.
    Für einen Moment erhellte sich der Durchgang. »Mein Sohn, was tust du?«
    Im Gegenlicht erkannte Aurelio lediglich die Umrisse des Priesters. Sein massiger Körper nahm die gesamte Türöffnung ein.
    Aurelio begann, eine Antwort zu stammeln, doch der Priester kam ihm zuvor. »Ah – du gehörst der Bottega von Maestro Buonarroti an. Aurelio, nicht wahr?«
    Aurelio nickte. »Er ist … Wir haben auf ihn gewartet, doch er ist nicht gekommen. Ich dachte, vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.«
    Mit schweren Schritten kam der Priester auf ihn zu. Seine Gestalt verdunkelte den Raum. Als er seinen fleischigen Arm um Aurelio legte, entstieg seinem Gewand ein Geruch nach saurem Schweiß.
    »Nun«, sagte er, und sein Atem fügte dem stechenden Geruch die Würze schwarzen Kardamoms hinzu, »hier jedenfalls scheint er sich nicht aufzuhalten.«
    »Nein«, brachte Aurelio hervor.
    Die Hand des um ihn gelegten Arms begann, über Aurelios Schulter zu streichen.
    »Nun«, begann der Priester von neuem, und Aurelio musste den Kopf abwenden, »wir könnten gemeinsam nach ihm suchen. Was meinst du?«
    Mit einer schnellen Drehbewegung entwand sich Aurelio seinem Griff. »Ich glaube, das wird« – eilig ging er dem Licht entgegen – »nicht nötig sein. Danke.« Er lief durch die Kapelle und stolperte in die Nacht hinaus.
    * * *
    Bis Aurelio in der Bottega eintraf, war er völlig außer Atem. Er war aus dem Vatikan geeilt, die Rampe zum Petersplatz hinunter und über die Piazza Rusticucci gerannt. Dabei hatte er die ganze Zeit nur einen Gedanken gehabt: Michelangelo war verschwunden. Gemeinsam mit den Männern. Vom Erdboden verschluckt. Inzwischen kamen andere Gedanken hinzu: Was hatte das zu bedeuten? Wohin hatten sie ihn verschleppt? Bis Aurelio die Tür aufstieß, wurde er von einer Vision verfolgt, sah den leblosen Körper seines Meisters auf dem nackten Steinboden einer Zelle liegen, über ihm der Jaguar, die Vorderpfoten auf Michelangelos Brust, das Maul blutverschmiert.
    »Er ist weg!«, rief Aurelio.
    Die anderen blickten verwundert zu ihm auf.
    »Wer?«, fragte Bugiardini.
    »Maestro Buonarroti«, keuchte Aurelio, »er ist verschwunden!«
    Die anderen warfen sich fragende Blicke zu, dann sagte Agnolo: »Er ist in seiner Kammer, wie jeden Abend.«
    Aurelio glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Alles schien plötzlich in Bewegung zu sein.
    »Er ist oben«, erklärte Bastiano.
    »Aber das ist unmöglich!«, entgegnete Aurelio.
    Rosselli trat an ihn heran und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Komm«, sagte er, »es gibt noch Essen.«

XXXI
    In dieser Nacht musste sich, unsichtbar und lautlos, in

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