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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Inzwischen waren die Giornate sechsmal größer als noch bei der Sintflut. Es schien, als male er aufs Geratewohl, ohne einen Augenblick nachzudenken. Seine Fähigkeit, Dinge zu sehen, die noch gar nicht existierten – diese einmalige Gabe, die ihn eine Statue wie ein Geschenk aus ihrer marmornen Verpackung schälen ließ –, er hatte es verstanden, sie sich ganz für seine Arbeit an der Sistina zunutze zu machen.
    Jeden Tag trug Michelangelo einen neuen Wettstreit mit sich selbst aus, wurden die Figuren noch größer, noch plastischer, die Positionen noch schwieriger, die Farbwahl noch kühner, die Wirkung noch überwältigender. Endlich verstand Aurelio, was sein Meister gemeint hatte, als er davon sprach, dass der Parnass ein einsamer Ort sei, an dem der Künstler die Meisterschaft nur noch aus sich selbst heraus vorantreiben könne.
    Granacci nahm den Gehilfen beiseite. »Schau dir den Faltenwurf an. Man kann fühlen, wie mit jeder Lage das Gewicht der Stoffe zunimmt.« Er berührte den orangefarbenen Ärmel Zacharias’, als müsse er seine Finger davon überzeugen, dass er nur gemalt war. »Wenn er so weitermacht«, fuhr Granacci fort, »wird von dem, was in der Malerei vor ihm exisitiert hat, nicht viel übrig bleiben.«
    Rosselli trat hinzu: »Ich begreife es nicht: Er hat in seinem ganzen Leben noch nie di sotto in sù gemalt. Und jetzt stellt er sich hin und malt freihändig Figuren von doppelter Lebensgröße in perspektischer Verkürzung? Wann hat er das gelernt – im Schlaf?«
    »Dafür schläft er zu wenig.« Granacci ging unter dem nahezu fertigen Zacharias auf und ab. Tatsächlich hatte Michelangelo die Krümmung des Tonnengewölbes vollständig aufgehoben. Zacharias wirkte, als sei er auf eine flache Wand gemalt worden. »Er war immer besser als die anderen«, überlegte Granacci, »schneller. Aber das hier kann einem Angst machen.« Er blieb stehen und betrachtete den Faltenwurf des Gewandes. »Perugino hat Jahre gebraucht, um di sotto in sù zu lernen – mit Karton. Niemand kann das ohne Vorlage.«
    * * *
    Für die Bottega bedeutete Michelangelos wachsende Eigenständigkeit einen schrittweisen Verlust der eigenen Notwendigkeit. Je mehr er über den Umgang mit Farben lernte, je sicherer sein Pinseltrich wurde, je stärker die anfänglichen Probleme mit dem Intonaco in Vergessenheit gerieten, desto entbehrlicher wurde die Hilfe seiner Mitarbeiter. Und seine Besessenheit verschärfte diese Entwicklung noch. Wenigstens die Vorfahren Christi, die für die Lünetten oberhalb der Fenster vorgesehen waren – ein Thema, das zuvor noch nie dargestellt worden war –, hätte er Bastiano, Rosselli und Agnolo anvertrauen können. Doch sobald es um den menschlichen Körper ging, konnte er nicht ertragen, jemand anderem die Ausführung zu überlassen. Jeder einzelnen Figur musste und durfte ausschließlich von seiner Hand Leben eingehaucht werden. So waren Bastiano und die anderen hauptsächlich damit beschäftigt, Hintergründe, Namenstafeln und die künstliche Architektur mit ihren Streben, Pilastern und Gesimsen zu malen.
    Am Morgen nach der Fertigstellung des Zacharias versammelte Michelangelo die Bottega im Atelier. Er trat vor seine Helfer, wich jedoch ihren Blicken aus. Irgendwann förderte er aus den Falten seines Umhangs umständlich einen Geldbeutel zutage und setzte ihn auf der Tischplatte ab. Jede weitere Erklärug erübrigte sich.
    »Wer?« Es war Agnolo, der das Wort ergriff.
    Seit Wochen rechnete er damit, aus Michelangelos Diensten entlassen zu werden. Sein Bruder und er führten in Florenz eine Auftragswerkstatt. Er wusste, wie die Kosten für Angestellte den Gewinn auffraßen. Und er machte sich keine Illusionen über die Entbehrlichkeit seiner Mitarbeit. Bei Michelangelos Geiz war es verwunderlich, dass er Agnolo nicht bereits vor zwei Monaten ausbezahlt hatte. Und da Michelangelo wild entschlossen schien, sämtliche Figuren des Freskos von eigener Hand auszuführen, hatte die Arbeit hier das meiste von ihrem Reiz eingebüßt.
    »Giuliano und du«, antwortete Michelangelo.
    Jeder konnte sehen, wie unwohl ihm dabei war. Nachdem Tedesco die Bottega im Streit verlassen hatte, war ihm sehr daran gelegen, nicht noch mehr Unfrieden zu stiften. Auch sorgte er sich um seinen Ruf in Florenz. Tedesco, so hieß es, versäume keine Gelegenheit, ihn dort in Misskredit zu bringen. Doch nüchtern betrachtet gab es keinen Grund, an Bugiardini und Agnolo länger festzuhalten. Aurelios begabte Hände

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