Der Sixtinische Himmel
Sache auf der Welt, die Michelangelo so sehr zu sich selbst finden ließ. Die einzige Erklärung jedoch, mit der Piero aufwartete, war, dass auch Michelangelo neuerdings Gefallen an käuflicher Liebe gefunden haben könnte. Die war schließlich jedermann in dieser Stadt zugänglich, unabhängig von seiner Neigung.
Oft verspürte Aurelio den Impuls, seinem Meister heimlich zu folgen. Doch er wagte es nicht. Michelangelo fühlte sich permanent bedroht und witterte an jeder Straßenecke jemanden, der ihm nachstellte. Und dann würde er ihn womöglich zurückstoßen – in ein Leben voller einfacher, ehrlicher Arbeit, voller genügsamer Zufriedenheit, voller Gleichförmig- und Bedeutungslosigkeit. Ihm zu folgen und dabei unbemerkt zu bleiben war praktisch unmöglich. So blieb Aurelio nichts anderes übrig, als sich auf seinem Lager zu wälzen und mit seiner Eifersucht zu ringen, mit seinen Sehnsüchten und Begierden, seiner gleichermaßen verzweifelten wie hoffnungslosen Liebe. Im Grunde erging es ihm wie seinem Meister – mit dem Unterschied, dass Michelangelo die Möglichkeit hatte, den Empfindungen, die ihn zu ersticken drohten, einen Ausdruck zu verleihen, einen Sinn zu geben, sie unsterblich zu machen.
XL
Mit gespreizten Beinen stand Aphrodite über ihm und wollte gerade ihr zu einer Schnecke gewundenes Haar lösen, als zwei dumpfe Schläge und das Krachen von berstendem Holz Aurelio aus dem Schlaf rissen. Die Erschütterung ließ die Wände erzittern. Er spürte einen Körper neben sich. Margherita. Nicht Aphrodite. Ihr Bett. Ihr Schlafzimmer. Auch sie war aufgeschreckt. Dumpfes Gepolter durchdrang die Wände. Die Wohnungstür, jemand hatte die Wohnungstür eingeschlagen! Weiter kam Aurelio nicht, denn in diesem Moment wurde mit solcher Wucht die Schlafzimmertür aufgestoßen, dass das obere Band aus der Verankerung platzte. Drei maskierte Männer in schwarzen Umhängen stürmten herein.
»Nein!«, schrie Margherita, ohne zu wissen, was vor sich ging, »nicht, bitte!«
Zu mehr hatte sie keine Gelegenheit. Einer der Männer – ein riesiger Schatten – riss sie aus dem Bett und schleifte sie an einem Arm hinter sich her über den Fußboden. Aurelio sprang auf, hatte aber nur noch Gelegenheit, einen eisenbewehrten Söldnerstiefel aufblitzen zu sehen, bevor der ihn in den Magen traf und mit dem Hinterkopf gegen die Wand taumeln ließ. Innerhalb eines Augenblicks wich sämtliche Luft aus ihm. Nur die kalte Wand, gegen die sein nackter Körper geschleudert wurde, stützte ihn noch. Auf der anderen Seite des Zimmers trat der kleinste der drei Männer, der sich bis dahin nicht gerührt hatte, vor Margherita, während der Hüne ihr scheinbar mühelos die Arme auf den Rücken drehte und ihren Oberkörper aufrichtete.
»Nicht das Gesicht!«, schrie sie und wandte den Kopf ab.
Aurelio spürte die Ohnmacht wie eine Furie in sich aufsteigen. Nie wieder, so hatte er sich damals geschworen, nie wieder würde er zulassen, dass dieses Gefühl von ihm Besitz ergriff. Und jetzt fraß es sich durch Mark und Bein wie ein Lauffeuer. Derjenige, der ihm seinen Stiefel in den Bauch gerammt hatte, hielt inzwischen einen Katzbalger auf ihn gerichtet, dessen Parier sich wie eine Schlange um seine schwarz behandschuhte Hand wand. Aus dem Augenwinkel sah Aurelio, wie der Kleine seine Finger um Margheritas Kinn legte und ihr Gesicht nach vorne zwang, während seine freie Hand einen Gegenstand aus seinem Umhang zutage förderte, der nach einer beiläufigen Drehung des Handgelenks gefährlich zu schimmern begann.
»Ich flehe Euch an«, presste Margherita heraus, der bereits Tränen über die Wangen liefen, »nicht mein Gesicht!«
Ein Rasiermesser. Der Kleine hielt ein Rasiermesser in der Hand.
»Nein!«, brüllte Aurelio aus voller Kehle, schlug den Arm mit dem Katzbalger aus dem Weg und drängte vorwärts, doch bevor sein Aufschrei verklungen war, bohrte sich bereits der kugelförmige Knauf des Kurzschwertes in seine Brust und schleuderte ihn erneut gegen die Wand. Der Schmerz durchdrang ihn wie eine glühende Lanze und brannte sich in sein Rückgrat. Er sah noch die zwei schnellen, unscheinbaren Bewegungen des Kleinen, wie um etwas aufzufangen, und hörte, wie Margheritas Schreie in einem Gurgeln untergingen, dann sackte er in sich zusammen. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor er sein Bewusstsein verlor, war der Geschmack seines Erbrochenen.
* * *
Als Aurelio wieder zu sich kam, stand Margherita mit vor Entsetzen geweiteten
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