Der Sixtinische Himmel
Kanonen. Anders als Julius rieb sich Alfonso die Hände, als er von dem Vorhaben der Venezianer erfuhr, ließ seine geliebten Geschütze in Stellung bringen und wartete geduldig, bis die republikanische Flotte sich in ihr eigenes Verderben manövriert hatte. Dann ließ er die so ruhmreichen Galeeren zu Kleinholz zerschießen, ehe die Venezianer Gelegenheit hatten, zweimal tief Luft zu holen.
Gestern, zwei Monate später und nicht zufällig mitten während der Karnevalsfeiern, hielt Julius den Zeitpunkt für gekommen, seine Genugtuung öffentlich zu zelebrieren und die venezianische Abordnung im wahrsten Sinne des Wortes zu Kreuze kriechen zu lassen. Während die Bürger Roms Stiere durch die Gassen trieben und man Krüppel, Pferde und kostümierte Juden auf der Via del Corso Wettrennen austragen ließ, sprach Julius die venezianische Republik feierlich von ihren Sünden gegen die Kirche frei.
Rosselli, Michelangelo und Aurelio waren bei der Zeremonie zugegen. Der Petersplatz barst vor Schaulustigen, die angetrunken und in zum Teil aberwitzigen Kostümen das heilige Ritual verfolgten. Viele stampften sich die Kälte aus den Beinen, und als die fünf in Scharlachrot gekleideten Venezianer erst Julius’ Fuß küssen und sich anschließend vor ihn niederknien mussten, grölte ein Harlekin »tiefer, tiefer!« und erntete mehr Gelächter als während eines ganzen Wochenendes im Circus Agonalis.
Michelangelo grollte die ganze Zeit über, zum einen, weil mehrere Dutzend Zuschauer seine Marmorblöcke als Tribüne nutzten, zum anderen wegen der Art, wie sich der Papst in Szene setzte. Er thronte am Kopf der Freitreppe, Bibel und Kreuzstab für jedermann sichtbar in Händen, hinter sich die Reste der alten Petersbasilika. Der päpstliche Chor hatte im Halbkreis um ihn Aufstellung genommen. Das Verlesen der Klauseln ging vollständig im Gemurmel der Menge unter, anschließend hob der Chor zu singen an: Miserere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam …
»Popanz«, knurrte Michelangelo nur, als sich Julius endlich von seinem Thron erhob und den Bannstrahl löste, der Venedig aus der kirchlichen Gemeinschaft ausgeschlossen hatte, indem er jedem der Abgesandten einmal seinen Kreuzstab auf die Schulter legte.
Der Preis Venedigs für die Aussöhnung war, neben der zu erduldenden Schmach, die Aufgabe sämtlicher Ansprüche auf die Romagna sowie die Abtretung aller Besitzungen auf dem Festland.
Michelangelo wandte sich ab und verschwand in der Menge, während die Sorge um den nächsten Krieg lustvoll in Julius’ Adern zu kreisen begann. Der Friedensschluss zwischen dem Kirchenstaat und Venedig würde Ludwigs Gallensäfte zum Kochen bringen.
* * *
»Stütz dich auf den Ellenbogen und streck den anderen Arm in die Luft«, riss Michelangelo seinen Gehilfen aus den Gedanken.
Aurelio blickte bittend zu ihm auf. »Meine Glieder sind steif wie Holz.«
»Dann stell dir vor, durch deine Finger würde göttliche Kraft in dich einfließen und deinen gesamten Körper mit Wärme erfüllen.«
Aurelio versuchte es.
Michelangelo stand auf, ging im Kreis um Aurelio herum, hockte sich hin und neigte seinen Kopf, um ihn richtig sehen zu können. »Hm«, machte er, wandte seinem Gehilfen den Rücken zu und kehrte zu seinem Schemel zurück. »Hm.«
»Mein Arm«, sagte Aurelio.
Michelangelo rückte den Sitz etwas nach rechts, setzte sich, senkte seinen Kopf, stand auf, rückte den Schemel nach links, setzte sich wieder. »Ist es das?«, überlegte er laut.
»Ich kann ihn nicht mehr halten«, sagte Aurelio.
»Möglicherweise.« Er zog den Schemel eine Handbreit nach vorne und leckte abwesend den Rötelstift an. »Möglicherweise ist es das.«
»Meister!«
»Was?«
»Ich kann den Arm nicht mehr halten!«
»Dann stell von mir aus das hintere Bein auf und leg den Arm auf dem Knie ab. Und unterbrich mich nicht dauernd!«
Für lange Zeit war nur noch das Pfeifen seiner Nase und das Kratzen des Stiftes auf dem Papier zu hören, während Aurelio, eingehüllt in den Geruch der Decke, in seiner Vergangenheit versank, die so seltsam fern war und doch so verzweifelt nah und die erfüllt war vom leisen Rauschen goldener Ähren, dem warmen Glanz eines sich im Wind wiegenden Weizenfeldes und von der bedingungslosen Liebe seiner Eltern.
Irgendwann fanden auch fremde Gerüche Eingang in seine Erinnerungen – Fisch, Kartoffeln –, und noch bevor Aurelio Gelegenheit hatte, ihnen auf die Spur zu kommen, sagte eine Stimme: »Adam?«
Vor
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