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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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nicht wiederkommen. Und erst, als Aurelio die Widersinnigkeit dieses Gedankens erkannt hatte, wurde ihm klar: Michelangelo war nicht auf dem Weg zu Margherita. Natürlich nicht. Was hätte er schließlich mit einer Kurtisane anfangen sollen, außer sie zu zeichnen? Vielmehr musste er sich auf dem Weg zu seiner geheimen Werkstatt befinden!
    Sein Meister war bereits in eine Seitengasse eingebogen, als Aurelio ihm endlich nachlief. Er erreichte die Ecke des Wehrturms gerade noch rechtzeitig, um zu verfolgen, wie Michelangelo in die nächste namenlose Gasse eintauchte. Kaum hatte Aurelio diese erreicht, war sein Meister verschwunden. Er spitzte die Ohren. Außer dem Pochen seines Herzschlags war noch ein weiteres Pochen zu vernehmen – die kurzen, schnellen Schritte Michelangelos. Aus einem Torbogen. Sollte sein Meister hier seine geheime Werkstatt betreiben? Das hätte niemals unbemerkt bleiben können. Aurelios Nackenhaare stellten sich auf, als er den Torbogen durchschritt.
    Er fand sich auf einem unerwartet großen Innenhof wieder, in dessen Zentrum sich ein palmenumstandener Brunnen befand. Das hatte Aurelio über diese Stadt gelernt: Die Schönheit traf einen oft unerwartet. Doch wo war sein Meister? Auf den nassen Travertinplatten waren noch die Abdrücke seiner Stiefel zu erkennen. Sie führten zur einen Seite in den Hof hinein und zur anderen wieder hinaus. Offenbar hatte er den Weg nur gewählt, um in eine Parallelgasse zu gelangen. Aurelio folgte den Stiefelspuren, die ihn in eine gespenstische Gasse führten, und erblickte den Umriss von Michelangelos wallendem Kapuzenumhang, der sich in Richtung der Ripetta, des Hafens, entfernte.
    Von jetzt an war es einfacher, Michelangelo zu folgen. Der aufgeweichte Lehmboden hielt die Stiefelabdrücke fest. Je näher sie der Ripetta kamen, der gefährlichsten Gegend zwischen dem Tiber und der Via del Corso, desto weniger Menschen begegneten Aurelio und desto weniger Stiefelabdrücke musste er auseinanderhalten. In diese Gegend wagte sich nach Anbruch der Dunkelheit nur noch, wer nichts zu verlieren oder nichts zu fürchten hatte. Oder wer unerkannt bleiben wollte. Aurelio passierte die ausladende Freitreppe, die zur Anlegestelle hinunterführte, dahinter gurgelte, in schwarzes Nichts gehüllt, der Tiber. Auf der anderen Uferseite hatte die Bebauung längst aufgehört. Dort befand man sich außerhalb der Stadtmauern.
    Oberhalb des Hafens zog sich eine lange Reihe gemauerter Schuppen entlang des Tiber nach Norden. Die meisten dieser Verschläge hatten bereits etliche Hochwasser überstanden, ohne dass sich jemand die Mühe gemacht hätte, die Schäden anschließend auszubessern. Doch sie waren mit massiven Türen und schweren Schlössern versehen. Viele Händler, deren Waren auf dem Seeweg nach Rom kamen, nutzten sie als Lager. Ein idealer Ort, wie Aurelio erkannte. Tagsüber belebt, nachts jedoch menschenleer. Gut gesichert. Und Michelangelo konnte die ganze Nacht hindurch den Schlägel schwingen, ohne dass jemand Anstoß daran nahm. Mitten in der Stadt und dennoch völlig im Verborgenen.
    Die Ränder eines der Fensterverschläge begannen zu glimmen. Es war vergittert, die daumendicken Eisenstangen im Mauerwerk eingelassen. Aurelio hörte das Knacken von Kohlen. Der feine, stechend-klare Geruch des Marmors, der ihm aus der Bottega vertraut war, kitzelte ihn in der Nase. Er schlich zur Tür und legte sein Ohr an das kalte, taubeschlagene Holz. Kein menschliches Geräusch. Nur das Knacken der Kohlen. Der Wind wehte den Regen direkt in den Kragen seines Umhangs. Aurelio begann, die Kälte zu spüren, den Wind, die Müdigkeit, das Gewicht der letzten Stunden, die Enttäuschung.
    Margherita – was sollte aus ihr werden? Und was machte er hier, im Regen, vor dieser Tür? Sein Umhang wurde schwerer und schwerer. Er bemerkte eine Ratte, die zwischen seinen Füßen Schutz vor dem Regen suchte. Hier am Tiber gehörte die Stadt ihnen. Sie waren eine unliebsame Tatsache, gegen die aufzubegehren die Römer längst aufgegeben hatten. Irgendwer hatte behauptet, sie brächten die Pest. Doch das war Gassengeschwätz, wie es die Waschweiber so gerne verbreiteten. Genauso wie die Sache mit den Juden. Früher hatte man geglaubt, die Juden seien schuld an der Pest, weil sie heimlich die Brunnen vergifteten. Inzwischen wusste man längst, dass auch das nicht stimmte. Aurelio stieß dem Nager seinen Bauernschuh in die Seite und erschrak über sich selbst. Seit wann fügte er den Geschöpfen

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