Der Sixtinische Himmel
Augen vor ihm und presste sich die Hände auf die Wangen. Unaufhörlich sickerte das Blut zwischen den Fingern hindurch, lief in breiten Bändern ihre Arme hinab, über ihren Hals, ihre Brüste, ihren Bauch, rann ihre Schenkel hinab und tropfte von ihrer Scham. Nachbarn stürmten herein, hektische Fackeln tanzten durch den Raum. Margherita wurde in einen Mantel gehüllt, ihr Gesicht mit einer Stoffbahn umwickelt. Aurelio glaubte das Wort Sfregia zu hören, unten, auf der Straße, wurde nach einer Kutsche gerufen. Zwei Frauen stützten Margherita und drängten sie aus der Wohnung.
Eine ältere Frau, die Aurelio als Ruffiana, als Kupplerin, bekannt war, stand vor ihm und schwenkte etwas Schwarzes in ihrer Hand. Eine Trikothose. Seine Trikothose. Er täte besser daran, sich schleunigst zu verdrücken, bevor die Sbirri auftauchten. Niemand wolle gerne mit einer Sfregia in Verbindung gebracht werden. Also stimmte es. Abwesend nahm Aurelio die Hose entgegen, stand auf, suchte seine Kleidungsstücke zusammen, folgte der blutigen Spur, die Margheritas Füße hinterlassen hatten, stolperte benommen die Stufen hinab und trat schließlich halbnackt auf die Straße.
Der Regen warf sich gegen sein Gesicht und seinen Oberkörper. Auf dem Tiber kräuselte sich das Wasser, im Schein der Fackeln an der Engelsburg folgte eine Regenwelle auf die nächste. Dort, wo Margherita in die Kutsche gesetzt worden war, glänzte der Umriss einer Blutlache auf dem Pflaster. Der eisige Regen jedoch, der seit zwei Tagen auf die Stadt niederging, löste ihn bereits auf. In wenigen Augenblicken würde nichts mehr auf das Unglück hindeuten, das sich hier ereignet hatte. Umständlich streifte sich Aurelio sein Hemd über, setzte sein Barett auf und hüllte sich in seinen Umhang. Noch immer fuhr ihm mit jedem Atemzug ein stechender Schmerz in die Brust.
Eine Sfregia, das war allgemein bekannt, bedeutete zwangsläufig das Ende einer jeden Kurtisanenlaufbahn. Sämtliche Träume und Pläne Margheritas waren heute Abend durch zwei kurze Bewegungen zerstört worden. Eine Sfregia. Auf diese Weise rächten sich abgewiesene Freier oder eifersüchtige Liebhaber an den Frauen, die sie begehrten. Wenn ich sie nicht besitzen kann, so die Aussage, dann darf auch kein anderer sie sein Eigen nennen. Zwei Schnitte quer über die Wangen der Frau, und ihr Leben als Kurtisane gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an. Manche Freier rächten sich selber, andere – wie dieser – ließen sich rächen.
Und wieder hatte Aurelio tatenlos zugesehen. Erst hatte er seine Mutter nicht beschützt, jetzt seine Geliebte. Wann immer ihm Gott eine entscheidende Prüfung auferlegte, versagte er. Warum? Was Margherita anging: Sie hatte ihren Mann betrogen, ihn in seinem eigenen Haus eingesperrt, zigfachen Ehebruch begangen. Vielleicht hatte Gott sie für ihre Sünden gestraft. Doch es konnte unmöglich Gottes Wille gewesen sein, dass seiner Mutter das Schicksal widerfuhr, das ihr widerfahren war. Warum also? Gott! Warum?
Was würde aus Margherita werden? Mit Glück könnte sie in den Borgo Leonino zurück, um sich als einfache Hure zu verdingen. Vielleicht fand sich ein Puttaniere, ein Zuhälter, der sie halbwegs anständig behandelte und sie besser vor eifersüchtigen Freiern schützte, als Aurelio es getan hatte. Nach einer Sfregia jedoch war selbst das unwahrscheinlich. »Heilige Mutter Gottes«, flüsterte Aurelio, »bitte hilf ihr.«
Bis Aurelio das Geklapper der heransprengenden Pferde wahrnahm, schossen sie bereits aus den Gassen. Sbirri, zu Pferde. Eine nackte, stadtbekannte Kurtisane, die einer Sfregia unterzogen worden war – das ließ man sich nicht entgehen. Gleich würde es hier von Sbirri nur so wimmeln. Aurelio stolperte vorwärts, bog in die erste unscheinbare Gasse ein und verschwand in der Nacht.
Auf dem Weg zum Ponte Sant’Angelo wurde Aurelio im Vorbeigehen von einem Mann angerempelt, der im Laufschritt und mit gesenktem Kopf durch den Regen eilte. Doch statt sich zu entschuldigen, zog der Mann die Kapuze nur noch tiefer in die Stirn. Aurelio, der noch in den Ereignissen der vergangenen Stunde gefangen war, begriff erst, wer da soeben an ihm vorbeigegangen war, als der Mann bereits die Torre di Nona erreicht hatte. Und das, wo Aurelio doch den gehetzten, abgehackten Gang und den nach vorne geneigten Oberkörper mühelos unter Tausenden erkannt hätte.
Ihr werdet Margherita nicht antreffen, dachte Aurelio. Sie ist nicht zu Hause und wird so bald auch
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