Der Sixtinische Himmel
Gottes grundlos Leid zu?
Der Tritt fiel heftiger aus als beabsichtigt, riss die Ratte von den Beinen und schleuderte sie gegen die Tür. Mit einem empörten Fiepen verschwand sie Richtung Fluss – so wie Aurelio, der ihr eilig folgte, als er die raschen Schritte seines Meisters im Schuppen vernahm. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Tür geöffnet wurde, hastete er auf schmatzenden Sohlen um die Ecke und drückte sich gegen die Rückwand. Der Tiber war angeschwollen und leckte an Aurelios ohnehin durchnässten Schuhen. Der schloss die Augen und flehte zu Gott, dass sein Meister ihn nicht gehört hatte.
Das Prasseln des Regens auf dem Windschutz kündigte die Laterne an, die sich an der Mauer vorbeischob. Michelangelo hatte sich mit einem Fäustel bewaffnet. Als er seinen Gehilfen erblickte, der mit zusammengekniffenen Augen im Regen stand wie ein Kind, das glaubt, nicht gesehen zu werden, solange es die Augen geschlossen hält, ließ er beides sinken. Aurelio kniff weiter die Augen zusammen und wartete auf Michelangelos Wutausbruch, der unweigerlich kommen musste. Doch er kam nicht.
»Ich sehe dich«, sagte Michelangelo nur, als Aurelio keinerlei Anstalten machte, sich zu regen.
Sein Gehilfe ließ die Schultern sinken und blickte ihn an, als erwarte er, zur Schlachtbank geführt zu werden. Überall tropfte Wasser von ihm herab. Er unternahm nicht einmal den Versuch einer Erklärung.
»Gut«, entschied Michelangelo, dem die schwarzen Haare bereits in Striemen auf der Stirn klebten, »erspare uns deine Ausflüchte.« Seine Augen lagen so tief in den Höhlen verborgen, dass Aurelio nur zwei schwach glänzende Punkte sah. »Geh nach Hause, leg dich schlafen und vergiss, dass du je hier warst.«
Die tropfende Trauergestalt entgegnete trotzig: »Aber Ihr schlaft doch auch nicht.«
»Schlaf ist für die anderen, Aurelio. Das solltest du inzwischen gelernt haben. Geh nach Hause, leg dich ins Bett und kehre nie wieder an diesen Ort zurück.«
»Ich … Ich kann nicht.«
»Du kannst nicht?«
Aurelio blickte zu Boden, wo seine Schuhe langsam im schlammigen Ufer versanken. Stumm schüttelte er den Kopf.
»Darf ich erfahren, warum?«
»Ich habe sie gesehen«, brachte Aurelio hervor.
Michelangelo vergewisserte sich, dass niemand außer den Ratten, die sich gegen die Rückwand kauerten, in Hörweite war. »Wen genau willst du gesehen haben?«
»Julius’ Kurti … Die Frau, die niemand …« Aurelio schien ganz und gar im Boden versinken zu wollen. »Aphrodite«, sagte er schließlich.
Michelangelo hielt die Laterne näher an Aurelios Gesicht. »Was meinst du, wenn du sagst, du habest sie gesehen?«
»Ich habe sie gesehen, wie Gott sie geschaffen hat.«
»Wie Gott sie geschaffen hat?«
Aurelio nickte. »Wie nur Gott sie geschaffen haben kann. Oder Ihr, Maestro Buonarroti.«
»Sprich nicht so lästerlich! Ich bin nur Gottes Werkzeug, nichts weiter.«
»Ich bin Euch gefolgt.«
Nach den vielen Monaten des Schweigens war es eine Erleichterung, endlich sein Geheimnis zu teilen. Selbst wenn es zur Folge haben würde, dass sein Meister ihn verstieß. Es spielte keine Rolle mehr. Indem Michelangelo ihn enttarnt hatte, war alles andere sinnlos geworden.
»In den Palast«, fuhr Aurelio fort. »Der Geheimgang, die Katakomben … Ich habe Euch zugesehen, wie Ihr die Zeichnungen angefertigt habt – hinter dem Wandbehang.« Er senkte seinen Blick. »Und ich habe Aphrodite gesehen. Ich weiß, dass Ihr den Marmorblock, den Ihr für die Julius-Statue vorgesehen hattet, hierhergeschafft habt, um sie unsterblich zu machen. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie Ihr das bewerkstelligt habt.«
Inzwischen sammelte sich das Wasser in Aurelios Schuhen, lief ihm den Rücken hinab, benetzte jeden Fingerbreit seines Körpers. Eine der Ratten wurde vom Tiber erfasst, stieß ein kurzes Fiepen aus und war verschwunden. Die verbliebenen drei oder vier drängten sich auf dem letzten Flecken Erde. Der Fluss hatte sie eingeschlossen.
»Ich habe ihn stehlen lassen«, sagte Michelangelo plötzlich, und sein Gehilfe glaubte tatsächlich, unter seinem Bart ein Lächeln aufblitzen zu sehen.
Aurelio kam sich vor wie ein Gefäß, das immer noch mehr Flüssigkeit in sich aufnehmen sollte, obgleich es längst überlief. »Ihr habt Euren eigenen Marmorblock stehlen lassen?«
»Hat mich vier Dukaten gekostet.« Die Laterne drohte zu erlöschen. Heute fand der Regen seinen Weg überallhin. Schließlich stieß Michelangelo einen Seufzer
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