Der Sixtinische Himmel
Schreck schnellte Michelangelos Oberkörper zurück. Weder er noch Aurelio hatten bemerkt, dass Rosselli hereingekommen war. Ein warmer Lufthauch trug die Gerüche aus der Küche in die Werkstatt.
»Was willst du?«, herrschte Michelangelo den hinter ihm Stehenden an.
»Ich habe Essen gemacht«, sagte Rosselli entschuldigend.
»Ihr immer mit Eurem Essen!«
Rosselli legte den Kopf auf die Seite und betrachtete über die Schulter seines Freundes hinweg die Zeichnung. »Ist das der Adam?«
Michelangelo knurrte etwas Unverständliches, erhob sich, sagte, »Schluss für heute, Aurelio«, klemmte sich seine Skizzenmappe unter den Arm und eilte aus dem Atelier, wobei er mit der Schulter gegen den Türstock stieß, weil er vergaß, den Kopf zu senken.
Aurelio war aufgestanden und hatte einen fragenden Blick mit Rosselli gewechselt, als Michelangelo, in seinen braunen Kapuzenmantel gehüllt, zurückkehrte. »Also schön, Piero«, knurrte er, ohne ihn dabei anzusehen. »Jetzt, da du die Zeichnung gesehen hast: Was denkst du?«
»Kann ich ihn noch einmal sehen?«, antwortete Rosselli.
Widerwillig klappte Michelangelo die Skizzenmappe auf.
»Es ist der Adam, nicht wahr?«, fragte Rosselli.
»Hm.«
Aurelio, der sich die Decke umgelegt hatte, trat ebenfalls hinzu. Beim Anblick der Zeichnung kam es ihm vor, als habe sein Meister ihm den Brustkorb geöffnet und sein Herz bloßgelegt. Oder war es umgekehrt? Hatte Michelangelo sich selbst die Brust aufgeschnitten und ihm, Aurelio, sein Herz bloßgelegt? Es war nicht zu sagen. Ist es das?, hatte sein Meister sich selbst gefragt. Nun, wenn es nach Aurelio ginge, dann war es das. Die Art, wie Adam seinem Schöpfer den Kopf zuwandte, die Bewegung, mit der er ihm die Hand entgegenstreckte … Es war, als ahne er bereits, dass der göttliche Atem ein unumkehrbares Schicksal über ihn bringen würde, ohne es jedoch ermessen zu können – dass eine Seele zu besitzen Leid bedeutete und eine ewige, unstillbare Sehnsucht. Und dennoch reckte er den Arm, um dieses Schicksal zu empfangen.
Ein trauriges Lächeln warf einen flüchtigen Schatten auf Rossellis Gesicht. Lange schon hatte er zu akzeptieren gelernt, dass Michelangelos Meisterschaft unerreichbar für ihn bleiben würde. In seltenen Momenten jedoch konnte ihm diese Erkenntnis noch immer einen Stich versetzen.
»Willst du wirklich wissen, was ich denke?«, fragte Rosselli seinen Freund.
»Hätte ich sonst gefragt?«
Rosselli warf einen letzten Blick auf die Zeichnung. »Dahin«, er deutete mit dem Kinn auf das Blatt, »wird dir niemand mehr folgen.«
»Gut«, sagte Michelangelo und klappte die Mappe zu.
Er verließ das Atelier, einen Augenblick später ging die Haustür.
Die Vigil war bereits vergangen, als Michelangelo zurückkehrte. Er bemühte sich, möglichst leise zu sein. Aurelio hörte ihn dennoch. Im Gegensatz zu Rosselli, den nicht einmal ein Trupp Geharnischter geweckt hätte, wurde Aurelio immer wach, sobald jemand den Riegel an der Haustür bewegte. Und während Michelangelo die Stufen zu seiner Kammer hinaufstieg, sein Bett knarrte, um kurz darauf für den Rest der Nacht zu verstummen, wälzte sich Aurelio auf seinem Lager und konnte keinen Schlaf mehr finden.
* * *
Seit sie die Arbeiten in der Sistina unterbrochen hatten, ging das schon so. Wann immer seine Geduld mit der Komposition des Freskos erschöpft war, schlich Michelangelo sich wie ein Dieb aus dem Haus, um erst bei Tagesanbruch zurückzukehren, drei, manchmal vier Stunden zu schlafen und mit neuer Kraft und gereinigtem Geist die Zeichenstudien mit Aurelio fortzusetzen.
Aurelio fühlte sich betrogen. Er wusste, wohin es Michelangelo in diesen Nächten zog: Er flüchtete sich in den Marmor. Die Statue, Aphrodite – sie war sein Lebenselixier. Für das Fresko war ihm sein Gehilfe unentbehrlich, seine eigentliche Bestimmung aber hielt er vor ihm geheim. Aurelio gestand es sich nur widerwillig ein, doch er war eifersüchtig – wie eine Frau, die ahnte, dass ihr Mann eine Geliebte hatte. Wie Margherita, die spürte, dass Aurelio sie nur noch benutzte, um seine Begierden und Sehnsüchte zu stillen, während seine wahre Leidenschaft einer anderen galt. Hinzu kam die Eifersucht auf Michelangelo, der von Aphrodite begehrt worden war wie kein anderer Mann vor ihm und der sie jetzt in Marmor meißeln würde, als gehöre sie ihm allein.
Piero, der von alldem nichts wusste, hätte zumindest einen Verdacht haben können. Schließlich gab es nur eine
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