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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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zwischen Leben und Tod. Der Tod hielt ihn umfangen. Manchmal meinte Aurelio, seinen eisigen Atem auf dem Gesicht zu spüren, ihn greifen zu können, ihn zu sehen – ein körperloser Schatten, der die Kerzen flackern ließ und die aufsteigende Luft verwirbelte. Nimm mich mit, dachte Aurelio. Vielleicht sagte er es sogar. Geh nicht ohne mich.
    Die Pest war eine Strafe Gottes, jeder wusste das. Zuerst hatte Gott Margherita für ihre Sündhaftigkeit bestraft, indem er zuließ, dass man ihr Gesicht aufschlitzte, jetzt hatte er seinen Zorn auf Aurelio gerichtet. Und seine, Aurelios, Schuld war weit größer als Margheritas. Er hatte still am Tisch gesessen, während Antonia im Stall um ihr Leben geschrien hatte. Der Tod war die gerechte Strafe. Vielleicht durfte er auf Gottes Vergebung hoffen, wenn er willig sein Leben gab für seine Sünden.
    »Verzeih mir«, flüsterte er wieder und wieder, »verzeih mir, Mutter, verzeih mir, verzeih mir …«
    In diesen drei Tagen verließ Michelangelo kein einziges Mal das Haus. Und statt wenigstens zum Schlafen in seine Kammer hinaufzusteigen, zog er sich Bugiardinis alten Materazzo aus der Werkstatt herüber und verbrachte die wenigen Stunden im Dämmerschlaf zu Füßen seines Gehilfen. Mit Hingabe rieb er ihn ab, salbte ihn, lagerte seinen Oberkörper auf Kissen, damit er besser atmen konnte, schob ihm den Topf für seine Notdurft unter, entleerte diesen, wusch ihn aus. Niemals hatte Michelangelo sich gestattet, Aurelio zu berühren. Jetzt, da die Situation es erforderte, kannte seine Fürsorge keine Grenzen.
    Insgeheim spürte Michelangelo sehr früh, dass seine Aufopferung vor allem der Befriedigung seines eigenen Verlangens diente. Die Tage, in denen sich Aurelio delirierend auf dem Lager wälzte, unaussprechliche Pein durchlitt, zwischen Diesseits und Jenseits pendelte, während sich Michelangelo vor Sorge nach und nach sämtliche Barthaare ausriss – es wurden die erfülltesten in Michelangelos Dasein. Zeit seines Lebens würde er die Erinnerung an diese Tage wie ein Amulett bei sich tragen.
    * * *
    Und so wurde der Tag, an dem Aurelio darauf beharrte, erstmals ohne die Hilfe seines Meisters aufzustehen, für Michelangelo zu einem der schönsten und zugleich schrecklichsten. Das frische Nachthemd durfte Michelangelo ihm noch überstreifen, dann allerdings musste er mit ansehen, wie sein Gehilfe auf unsicheren Beinen, doch ohne seine Hilfe, in den Vorraum trat, ins Licht – eine geisterhafte Gestalt, die sich zu ihm umwandte, ein von Dankbarkeit erfülltes Lächeln auf den farblosen Lippen, und sagte: »Ihr habt mir das Leben gerettet, Maestro.«
    Statt zu antworten, flüchtete sich Michelangelo in seine Kammer und schloss sich einen ganzen Tag lang darin ein. Was hatte er geglaubt? Dass Aurelio ihm den Gefallen tun würde, für immer krank und bettlägerig zu bleiben? Dass er ihn für immer würde pflegen dürfen, ihn würde berühren müssen? Hasserfüllt blickte Michelangelo auf seine Hände, auf die Finger, die Aurelio gereinigt, gekleidet, seine Wunden gesalbt, ihm die Exkremente und den Urin abgewaschen hatten, die ihn gedreht, gelagert, um ihn gebangt hatten, jede Berührung eine uneingestandene Liebkosung.
    Er ballte eine Hand zur Faust und schlug in Ermangelung eines brauchbaren Gegenstandes mit Wucht gegen die Wand. Begleitet von einem stumpfen Schrei durchzuckte der Schmerz seinen Arm und fuhr ihm in die Schulter. An der Wand blieben die blutigen Abdrücke von zwei aufgeplatzten Fingerknöcheln zurück. Mit der rechten die linke Hand haltend, ließ er sich auf das Bett fallen, wo er sich umherwälzte, wie Aurelio es so lange getan hatte.
    In dieser Nacht hätte Michelangelo dankbar mit jedem Pestkranken getauscht. Seine Sehnsucht schwoll an wie die Beulen an Aurelios Hals, durchdrang seinen Körper mit unaussprechlichen Schmerzen, verfärbte sich schwarz und – da es keine Möglichkeit gab, sie von außen aufzustechen – öffnete sich schließlich nach innen und entließ eine Woge tödlichen Giftes in seinen Körper. Um seinem seelischen Schmerz irgendetwas Konkretes entgegenzusetzen, schlug Michelangelo abermals mit der Faust gegen die Wand. Die Fingerkuppen, die sich vor wenigen Stunden erst geschlossen hatten, platzten erneut auf, alle vier diesmal. Befriedigt warf sich Michelangelo vor Schmerzen hin und her.
    Warum hatte Gott ausgerechnet ihn erwählt, um ihn solcher Qual auszusetzen? Weshalb hatte Gott ausgerechnet ihm ein Verlangen eingepflanzt, so

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