Der Sixtinische Himmel
zitterte nervös. »Alles noch ganz«, sagte er.
Aurelio konnte seiner Empörung nicht länger Herr werden. »Ihr werdet den Block ruinieren! Selbst wenn es Euch gelingt, ihn in einem Stück zu lassen, werdet Ihr die Statue verlieren.«
Michelangelo betrachtete eingehend den Marmorquader. Als er den Kopf schieflegte, tröpfelte Wachs von seiner Arbeitsleuchte. Schließlich streckte er die Arme aus wie zur Begrüßung. »Wozu soll ich sie bossieren? Ich sehe sie doch«, erwiderte er. Anschließend blickte er auf die Wachsflecken, die seine Kerze auf dem Boden hinterlassen hatte. »Verbesserungswürdig«, stellte er fest.
XLIV
Kein Fest wurde in Florenz ausgiebiger und exzentrischer gefeiert als das zu Ehren des heiligen Johannes am vierundzwanzigsten Juni. Die Clans verwandelten die Innenhöfe ihrer Villen in von Fackeln erleuchtete Vergnügungstempel, und die Viertel wetteiferten untereinander, welches die meisten Feierwilligen in seine Straßen locken konnte. Granacci hätte lieber seinen Geburtstag versäumt, als am vierundzwanzigsten Juni nicht in Florenz zu sein. Wie Michelangelo sprach auch er von Florenz gerne als seiner Heimatstadt, auch wenn er ebensowenig wie dieser dort geboren worden war. Es dauerte also bis zum sechsundzwanzigsten Juni, ehe Granacci und Rosselli, angekündigt von einem Brief voller überbordender Freude, nach Rom zurückkehrten. Als sie schließlich eintrafen, war das Gesicht Granaccis noch immer gezeichnet von den Ausschweifungen der Feier. Dafür war seine Begrüßung umso ungestümer. Als er seinen Freund in die Arme schloss, dachte Aurelio für einen Moment, er würde seinen Meister erdrücken.
Michelangelo hatte ihnen nach Florenz geschrieben. Sie wussten also, dass sowohl der Bildhauer als auch Aurelio dem Schwarzen Tod entgangen waren. Dennoch behandelten sie ihren Freund zwei Tage lang, als fürchteten sie, dass er im nächsten Moment unter ihrer Berührung zu Staub zerfallen könne. Jeder der beiden brachte seine Erleichterung auf eigene Weise zum Ausdruck.
Rosselli fasste Michelangelo bei den Schultern: »Noch weniger Fleisch auf den Rippen als vorher«, rief er. »Ich wusste es!«
Kurz darauf verschwand er in der Küche. In den folgenden Tagen nutzte er jede nur erdenkliche Gelegenheit, Schalen mit Essen hinter dem Bildhauer herzutragen.
Granacci hatte eine Koffertruhe voller nützlicher und unnützer Dinge mitgebracht. Bahnen fester, derber Leinen- und Wollstoffe zum Beispiel, wie sie in Florenz vom popolo minuto – dem einfachen Volk – getragen wurden. Michelangelo hatte immer darauf beharrt, sich keine neuen Hemden nähen lassen zu können, weil die Römer die Herstellung einfacher, guter Dinge nicht beherrschten. Überhaupt, diese verkommene Stadt bringe ausschließlich Dinge hervor, die nicht zur Benutzung, sondern bestenfalls zum Vorzeigen geeignet seien. Jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sich wenigstens neue Arbeitskleidung anfertigen zu lassen. Außerdem hatte Granacci Bettwäsche mitgebracht, Gläser, Teller, Pinsel, einen riesigen Schinken und große Mengen an neuen Pigmenten.
»Willst du mich verheiraten?«, beschwerte sich Michelangelo angesichts dieser Mitgift.
»Nein«, antwortete Granacci lächelnd, »aber falls es je so weit kommen sollte, habe ich das hier für dich.«
Er reichte ihm einen faustgroßen, in blaue Seide eingeschlagenen Gegenstand. Michelangelo nahm ihn argwöhnisch entgegen und entblätterte ein ebenso blaues, kostbares Fläschchen. Mit hochgezogenen Augenbrauen entkorkte er den Flakon und führte ihn zögerlich zur Nase.
»Was soll ich mit Rosenöl?«, fragte er ungläubig.
»Was hab ich gesagt?« Rosselli fing an zu grinsen, stieß den neben ihm stehenden Granacci in die Seite und hielt die Hand auf. »Du schuldest mir drei Grossi.«
Michelangelo bemühte sich nach Kräften, seine Freude über das Wiedersehen nicht nach außen dringen zu lassen. Insgeheim aber, das spürten Aurelio, Rosselli und Granacci gleichermaßen, war der Bildhauer gerührt. Michelangelo hatte nur sehr wenige Freunde, und die hatte er nur deshalb, weil sie die Größe besaßen, seine terribilità und seine abweisende Art nicht persönlich zu nehmen, sondern hinter dieser feindseligen Haltung sein wahres Wesen zu erkennen. Vielleicht, so ging es Aurelio durch den Kopf, waren sämtliche Menschen, die es wirklich gut mit ihm meinten, in diesem Haus versammelt.
Als Michelangelo scheinbar missmutig in seine Kammer hinaufstieg, um in seinem
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