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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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stark, dass es die Atmung lähmte, den Geist, den Körper, ihn mit jeder Faser diesem einen einzigen Gefühl unterwarf? Um nicht sein Bett zu besudeln, wickelte er sich ein Tuch um die blutende Hand. Dann begann er nachzudenken. Der Schmerz half ein wenig. Warum also?
    Je länger Michelangelo nachdachte, umso klarer stieg die einzig logische Antwort aus dem Abgrund seiner Seele zu ihm auf: Er musste die Pestbeulen seines Verlangens nach außen öffnen. Die einzig mögliche Heilung bestand darin, sein Herz zur Ader zu lassen. Erst hatte Gott ihm dieses einzigartige Talent verliehen, jetzt hatte er ihm einzigartige Qualen auferlegt, Michelangelos Holz in Brand gesteckt. Dieses göttliche Feuer – es musste in der Statue brennen. Und im Adam. Für immer. Wenn nicht das seine Bestimmung war, was dann? Er stand auf, wickelte das Tuch ab, tauchte seine Hand in die Waschschüssel und rieb sich das verkrustete Blut von den Knöcheln. Anschließend ballte er langsam einige Male die Finger zur Faust. Es würde gehen, den Schlägel könnten sie halten.
    Aurelio lag im Bett und erholte sich von den Strapazen der ersten Schritte. Er schlief, rein wie Adam am Tag seiner Erschaffung. Michelangelo trat auf die Gasse hinaus. Lautlos verriegelte er die Tür. Vom Tiber kommend strich eine sanfte Brise durch die Straßen.
    * * *
    »Ihr bringt sie ja um!«
    Ein weiterer Monat war vergangen, ehe Aurelio sich so weit erholt hatte, dass er seinen Meister in den Schuppen hinter der Ripetta begleiten konnte. Vier Wochen, in denen Michelangelo die Arbeit in der Kapelle hatte ruhen lassen und stattdessen die Tage bei Aurelio im Haus verbrachte und die Nächte in seiner geheimen Werkstatt.
    »Unsinn«, antwortete Michelangelo, während er sich über den Arbeitstisch beugte, um das Drahtgestell auf seinem Kopf zu befestigen, dessen ausgreifender Bogen die brennende Kerze hielt, die ihm als Arbeitsleuchte diente.
    Aurelio starrte den verstümmelten Marmorblock an. Sein Meister musste den Verstand verloren haben. An zwei Seiten hatte er versetzt riesige Keile aus dem Marmor geschlagen, als wolle er ihn fällen wie einen Baum. Mit dem nächsten Schlag würde der Quader in zwei Teile zerbrechen und unwiederbringlich zerstört sein.
    »Er ist verloren!«
    In aller Ruhe wählte Michelangelo Eisen und Schlägel aus und ging zu seinem Gehilfen. Der Bogen mit der Kerze wippte auf und ab und ließ Michelangelos Schatten drohend über die Wände zucken.
    Aurelio war den Tränen nahe. In den vergangenen zwei Jahren hatte er begierig alles aufgesaugt, was ihm sein Meister über das Bildhauern erklärt und gezeigt hatte. Er wusste, dass man zum Bossieren und für bestimmte Profilarbeiten ein Zahneisen verwendete, weil die gezahnte Schneide ein Einreißen des Marmors verhinderte. Er hatte dabei zugesehen, wie sein Meister über der Feuerstelle in der Küche seine Werkzeuge geschmiedet hatte, hatte das heiße Metall gerochen, es im Wasserbad zischen hören und seinen Meister genauestens dabei beobachtet, wie er bei dem Block im Atelier die Kanten abgetragen hatte. Und genau aus diesem Grund wusste er, dass dieser Block nicht mehr zu retten sein würde.
    »Ihr selbst habt mir gesagt, dass der Marmor bossiert werden muss, bevor man darangehen kann, die eigentliche Figur auszuformen.«
    »Hab ich das?«
    »Ja. Ihr habt gesagt, kein Bildhauer hätte jemals einen Block nicht bossiert.«
    Michelangelo kratzte sich am Kinn. »Und warum nicht?«
    Aurelio war fassungslos. »Das fragt Ihr mich? Na, weil sonst der Block zerspringt – so wie dieser es tun wird, sobald Ihr noch einmal Hand an ihn legt. Niemand kann einfach an einer beliebigen Stelle den Meißel ansetzen und die Figur aus dem Stein herauslösen.«
    »Das soll ich gesagt haben?«
    »Wer denn sonst!?«
    »Hm.«
    Michelangelo ließ seine Finger entlang der Kanten des oberen Dreiecks gleiten, das er aus dem Stein geschlagen hatte. Das fehlende Stück war so groß, dass der Stein eigentlich unter seiner eigenen Last hätte zusammenbrechen müssen, es aus unerfindlichem Grund aber nicht tat.
    Michelangelo entwischte eines seiner so seltenen Lächeln. »Selbst ich habe nicht immer recht«, sagte er und setzte den Meißel an.
    »Nicht!« Aurelio verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
    Dreimal ließ Michelangelo den Schlägel auf das Zahneisen treffen, dann sprang ein Stück von der Größe eines Doppeldukaten direkt vor Aurelios Füße.
    Der Bildhauer wandte sich seinem Gehilfen zu, die Kerze vor seinem Gesicht

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