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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Rosselli hin. »Kostet selbst«, forderte er ihn auf.
    Rosselli tauchte seinen Löffel in den Schleim und schob ihn in den Mund. »Schmeckt wie immer«, befand er.
    Später, beim Anrühren des Intonaco, stellten sich Gelenkschmerzen ein. Kleinste Bewegungen jagten Aurelio brennende Strahlen durch Knie, Hüften, Schultern, Ellenbogen und Handgelenke. Mit Schrecken bemerkte er, dass sogar die einzelnen Fingergelenke betroffen waren. Als habe sich ein Gift in seinem Körper eingenistet und nage an seinen Knochen. Den Auftrag des Intonaco musste Rosselli besorgen. Als Aurelio gegen Mittag die lange Leiter hinabstieg, um frisches Wasser zu holen, hatten seine Finger Mühe, die Sprossen zu umfassen. Unten angekommen, klebte ihm das Hemd auf der Haut. Er schleppte sich in den Cortile del Belvedere, befüllte die Eimer, die er danach kaum vom Brunnenrand zu wuchten in der Lage war, und taumelte zur Kapelle zurück.
    Unsicher schob Aurelio seine Füße über das Steinmosaik. Der Boden begann zu wanken, die Wände blähten sich auf und zogen sich zusammen wie die Flügel einer steinernen Lunge. Als er die Sprossen der Leiter fixierte und seine Hände dennoch ins Leere griffen, stellte sich erstmals ein Gefühl der Angst ein. Ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als Aurelio auf der Höhe von Peruginos Fresko der Schlüsselübergabe angelangt war, an dem die Leiter vorbeiführte. Der von Petrus’ Handgelenk herabhängende Schlüssel begann, hin und her zu schaukeln, und plötzlich bewegten sich auch die umherlaufenden Figuren im Hintergrund, sprangen von rechts nach links, streckten ihre Arme mal in diese, mal in jene Richtung. Der gesamte Platz schien aus der Wand herauszutreten, Gestalt anzunehmen, lebendig zu werden. Aurelio schloss die Augen und tastete nach den Sprossen. Oben angelangt, erbrach er sich auf die Bretter: eine bräunliche Lache, deren Verwesungsgestank ihm scharf in die Nase stach.
    »Verzeiht mir, Maestro«, brachte er hervor und sank benommen auf die Arbeitsbühne.
    Kurz darauf brach Michelangelo die Arbeit ab, knotete dem im Fieberwahn gefangenen Aurelio zwei Taue um die Brust und ließ ihn mit Rossellis Hilfe an den Seilwinden herab. Der päpstliche Chor, der sich zu einer Probe eingefunden und gerade ein Magnifikat angestimmt hatte, hielt abrupt inne. Die Sänger bestaunten mit geöffneten Mündern den von der Decke Herniederfahrenden, als hätten sie mit dem Lobgesang Marias den wahrhaftigen Engel Gabriel herbeigerufen. Erst nachdem der Niedergefahrene, gestützt von Rosselli und Michelangelo, durch den Seitenausgang entschwunden war und Michelangelo ihn in den Karren geladen hatte, der ihnen sonst zum Transport der Werkzeuge und Materialien diente, setzte, wie zum Geleit, der Gesang wieder ein.
    Ihm war kalt, furchtbar kalt. Und doch brannte sein Körper wie Feuer. Mit offenem Mund rang er nach Luft. Die Stimme seines Meisters sprach wie aus der Ferne zu ihm. Über die Wände tanzten Schatten. Er sah Kerzen, drei, fünf, acht, unmöglich, sie zu zählen. Die Zeichnung auf dem Boden, das Geschenk Michelangelos. Aurelio hätte sie gerne bei sich gehabt, doch je weiter er seinen Arm aus dem Bett zu strecken versuchte, umso weiter entfernte sich das Blatt von seiner Hand. Sein Arm! Dunkle Flecken, bläulich, schwarz, groß wie Dukaten. Im Nacken eine eisige Hand, die ihn aufrichtete, ein dröhnender Schmerz, der sich vom Kopf kommend gewaltsam in das Rückgrat stieß, das Mark aushöhlte, die Knochen dünn machte wie Glas. Seine Arme, über Kopf gestreckt, das Hemd, die Laken, alles von Schweiß bedeckt. Sein nackter Körper wie feuchtes Pergament.
    Michelangelo. Sein Gesicht direkt vor Aurelios. Warum war es so besorgt? Augen wie flüssiger Bernstein, tiefer als der Brunnen hinter dem Haus, ohne Boden. Trotula wird Hunger haben, so lange ohne Essen. So traurig, diese Augen. Aphrodite? Bist du gekommen? Nein. Der Bart. Maestro Buonarroti. Wie gerne würde ich Euch lieben. Doch auch mein Herz ist vergeben. Ihr wisst es. Ihr wisst immer so viel mehr. Der Becher, danke, der Lieblingsbecher, die Frucht vom Baum. Die Finger, sie verschmelzen, brennen sich ein in den Ton, schwarzer Qualm steigt auf, der Geruch verkohlten Fleisches. Knackende Balken, laut wie Donner, Flammen, die zum Himmel emporstreben. Kein Schmerz. Nur … Trauer? Abschied?
    Wieder das Gesicht. Maestro. So ernst jetzt. Wie gerne hätte ich Euch geliebt. Euch gerettet vor Euren Dämonen. Die Lippen, immer verborgen unter dem Bart. Worte wie

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